Muslimsein in Deutschland – Zwischen Duldung und Diskriminierung

„Wollten Sie selbst Ausländerin werden?“ fragte mich eine Viertklässlerin während des Besuchs ihrer Schulklasse in unserem Zentrum. Diese Frage machte mich einen winzigen Augenblick perplex, denn nicht nur das Wort „Ausländerin“, sondern vor allem auch das Wort „selbst“ führten mir wieder einmal mit allzu großer Deutlichkeit das hiesige Islambild vor Augen: Der Islam wird nicht nur als etwas Fremdes, Ausländisches und im Grunde nichts hierher Gehöriges wahrgenommen, sondern auch die Selbstbestimmtheit einer Muslimin wird zumindest angezweifelt, wenn nicht ganz und gar in Abrede gestellt – selbst von Grundschülern. Die Frage ordnete ich schnell in die Kategorie „unbedarftes Kind“ ein, woraufhin ich jedoch ebenso schnell eines Besseren belehrt wurde. Denn nun kam die Lehrerin auf mich zu und stellte freudestrahlend fest: „Sie sind sicherlich in Deutschland aufgewachsen, wo Sie doch so hervorragend Deutsch sprechen“.

Immerhin, die Verwunderung währt inzwischen deutlich kürzer. Ich kann mich an eine Begebenheit erinnern, die gut zwanzig Jahre zurückliegt. Es war ein für Hamburger Verhältnisse außergewöhnlich heißer Sommertag, als ich mit einer älteren Dame, die in einem der benachbarten Büros arbeitete, im Fahrstuhl stand. Welches Thema wäre besser geeignet für eine unverbindliche Konversation als das Wetter? Und so sagte die Dame denn auch: „Das ist ja wirklich sehr heiß heute. Aber na ja, bei Ihnen in der Wüste ist es sicherlich noch heißer.“ Ich muss gestehen, dass ich, eine Deutsche mit keinerlei äußerlich erkennbaren fremdländischen Einflüssen, aber mit islamischer Bekleidung, nur ein entgeistertes „Ja“ entgegnen konnte.

Diese Beispiele mögen auf den ersten Blick amüsant erscheinen, im Grunde aber sind sie charakteristisch für die Art und Weise, wie der Islam in dieser Gesellschaft von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und reflektiert wird; e pluribus unum, aus vielen eins, ist sicherlich nicht die bundesdeutsche Realität, solange Abgrenzungen die Diskussionen beherrschen und Gemeinsamkeiten nicht gesucht werden, und wenn selbst Deutsche als fremd und außerhalb der gewohnten Kultur und Gemeinschaft wahrgenommen werden, weil sie Muslime sind.

So wird mir als deutsche Muslimin ein Identitätskonflikt aufoktroyiert, der nicht der meine ist. Nicht ich habe mich von der Gesellschaft entfremdet, sondern die Entfremdung wird mir von außen auferlegt, die Gesellschaft erklärt mich für entfremdet. Für mich stellt sich nicht die Frage, ob der Islam in einen europäischen Kontext passt, ob Islam und Moderne überhaupt vereinbar sind, oder ob der Islam per se ein Gewaltproblem hat, und ich stehe dem heutzutage so gerne heraufbeschworenen christlich-jüdischen Erbe auch nicht diametral gegenüber, sondern sehe mich als Muslimin vielmehr in dieser Tradition stehend.

Ich muss keine Gewissenskonflikte mit mir selbst ausfechten, wenn ich mich vorbehaltlos zu den Menschenrechten, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder der Gleichberechtigung von Mann und Frau bekenne, denn meine Insider-Wahrnehmung vom Islam unterscheidet sich völlig von dem ideologisch verbrämten Zerrbild, das in Deutschland von Massenmedien und vermeintlich allwissenden Islamkennern und Publizisten unermüdlich gezeichnet wird. Jede Religion, Weltanschauung oder Ideologie bringt Extremisten hervor, so auch der Islam; das darf jedoch nicht die überwältigende Mehrheit der friedfertigen und menschlichen Werten verpflichteten Anhänger dieser Religion vergessen lassen.

Es gibt einige populistische Schlagworte, die seit Jahrzehnten die Islamdiskussion beherrschen und der breiten Öffentlichkeit unermüdlich eingebläut werden, z.B. was die Stellung der Frau oder das vermeintliche Verhältnis zu Nichtmuslimen betrifft, aber eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Islam findet – wenn überhaupt – höchstens auf einer quantitativ sehr begrenzten elitären und abgeschotteten Expertenebene statt. Es wird viel, es wird sogar sehr viel, wenn nicht zu viel, über den Islam gesprochen, aber die Qualität des Diskurses hält sich in einem bedauernswert minimalistischen Rahmen.

Mir persönlich erscheint die religiöse Identität im gesellschaftlichen und politischen Diskurs oftmals als überbewertet, gerade wegen der daraus resultierenden Polarisierung. Die Diskussionen über den Islam und damit auch über die Muslime sind in Deutschland zu sehr mit ausgrenzenden und marginalisierenden Aspekten verbunden und können letztlich nur polarisierend wirken. Dies machen auch die permanenten Forderungen nach einer Integration der Muslime deutlich, wobei der Begriff Integration deutlich zum Ausdruck bringt, dass Muslime nicht zu dieser Gemeinschaft gehören, ja, dass sie noch einen langen Weg vor sich haben.

Aber wie bitte, soll ich „Deutsche“ werden? Gewiss wäre ich seltener abwertendem Kopfschütteln oder hin und wieder beleidigenden Worten ausgesetzt, wenn ich äußerlich nicht als Muslimin erkennbar wäre. Zugegebenermaßen würde ich dann andererseits die Komplimente für meine guten Deutschkenntnisse einbüßen und auch die Glückwünsche, die ich von vielen Nichtmuslimen in diesem Jahr zum Ende des Ramadan erhalten habe, würden mich nicht mehr erreichen – aber kann man wirklich nur ein guter Bundesbürger sein, wenn man weniger Muslim ist? Ist das das Resultat der immer wieder beschworenen Aufklärung, in deren Genuss ich als Deutsche zwar gekommen bin, die mir aber als Muslimin wiederum angeblich fehlt?

Toleranz gilt oftmals als das Schlüsselwort für eine friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Völker, Ethnien und Religionen. „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit.

Toleranz ist nicht gleichbedeutend mit Nachgeben, Herablassung oder Nachsicht. Toleranz ist vor allem eine aktive Einstellung, die sich stützt auf die Anerkennung der allgemeingültigen Menschenrechte und Grundfreiheiten anderer …“ [1] Ja, Toleranz als Minimalanspruch erscheint dringend geboten, wenn man die negativen Assoziationen bedenkt, die z.B. mit dem Begriff „Konvertit“ in jüngster Zeit verbunden werden [2]. Toleranz, abgeleitet vom Lateinischen tolerare, d.h. „ertragen“, „aushalten“, „durchstehen“, „erdulden“, aber auch „zulassen“, wird notwendig, wenn Anderssein gegeben ist. Dabei wird der Toleranzbegriff m.E. verklärt, der negative Aspekt, den er impliziert, findet zu wenig Beachtung.

„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen [3],“ hat Goethe festgestellt. Derrida führt aus. „…und doch habe ich weiterhin Vorbehalte gegenüber dem Wort ‚Toleranz’ und dem Diskurs, den es organisiert. Es ist ein Diskurs mit religiösen Wurzeln, er steht meistens auf Seiten der Macht, immer verbunden mit gewissen herablassenden Konzessionen [4].“ Toleranz im Sinne von Duldung des Andersdenkenden, ist folglich durch eine Asymmetrie, eine Art Machtgefälle gekennzeichnet, die Goethe als „Beleidigung“ und Derrida z.B. als „herablassende Konzessionen“ beschreibt.

Toleranz schließt zwar die Verfolgung des Andersdenkenden aus, aber nicht seine Diskriminierung. Deshalb ist Toleranz also gar kein so positiver Begriff, wie man gemeinhin glauben möchte. Immerhin geht mein Toleranzverständnis so weit, dass ich erdulde, dass tagtäglich über mich und nicht mit mir gesprochen wird, und dass das, was gemeinhin geäußert wird, gelinde gesagt mit der Realität nicht konform geht: Ich habe einen akademischen Abschluss, bin berufstätig, werde von meinem Mann nicht unterdrückt und auch nicht geschlagen, ich muss auf der Straße nicht drei Schritte hinter ihm laufen und muss auch nicht die Einkaufstüten alleine tragen, ich darf auch als Frau in einer Moschee beten und zwar nicht in einem abgesonderten Raum, ich möchte nicht die Scharia einführen und ich möchte die Deutschen auch nicht zwingen, den Islam anzunehmen, und noch wichtiger: ich bin alles andere als eine Ausnahme!

Die Toleranzdiskussion täuscht über die Intoleranz hinweg, die aufgrund irrationaler emotionaler Einstellungen und für eine Evaluierung unzureichendem Wissen Akzeptanz letztlich versagt. Von Toleranz im Sinne einer Anerkennung des Anderen, wie Goethe sie gefordert hat, sind wir heute noch immer sehr, sehr weit entfernt, wenn auch unser Wissen über den Anderen und die Andersartigkeit fremder Kulturen ungleich größer ist. Müssen wir uns also in unserer komplexen aufgeklärten, säkularisierten von humanistischen Idealen sprechenden Welt mit Duldung zufrieden geben und die Entkräftung des Ideals der Anerkennung hinnehmen, weil sie aktuell nicht realisierbar erscheint?

Möglicherweise sollte man den Toleranzbegriff neu gewichten. Toleranz gegenüber dem Anderen und Andersdenkenden impliziert das Festhalten an der Wahrheit meiner eigenen Überzeugungen und autonomen Lebensgestaltung. D.h. wenn meine Lebensführung aufgrund meiner autonomen Entscheidungen der entscheidende Maßstab für den Toleranzbegriff ist, dann entspringt aus diesem Gedanken zumindest der Respekt für die autonomen Entscheidungen des anderen. Wenn ich die Meinung des anderen respektiere, auch wenn sie nicht meiner persönlichen Wahrheit entspricht, dann kann ich auf der Grundlage dieses Respekts das Gespräch auf einer gleichsam neutralen Ebene fortführen und weiterhin nach möglichen Gemeinsamkeiten suchen.

Gewiss müssen auch rationale und verständigungsbereite Individuen nicht immer zu einer Einigung gelangen, wie Rawls in seiner Erörterung der „Bürden der Vernunft“ [5] deutlich gemacht hat. Wenn aber der Toleranz der Begriff des Respekts anstelle der Anerkennung zugrunde gelegt wird, gewinnt man einen neutraleren oder eher Konsens generierenden Ausgangspunkt. Auf dieser Grundlage generiert eine individuelle Binnenwahrheit keine Außenwahrheit mit Allgemeingültigkeitsanspruch. Als Muslimin bin ich gehalten, den Absolutheitsanspruch meiner persönlichen ethischen und religiösen Wahrheit auf gesellschaftlicher Ebene zugunsten des gesamtgesellschaftlichen Konsenses zurückzunehmen, will ich den Geboten meiner Religion gerecht werden.

Sicherlich wird jeder vernunftbetonte gläubige Mensch mit einem vernunftbetonten Agnostiker, Säkularisten oder Atheisten effektivere Gespräche führen können als mit einem unvernünftigen Anhänger seines Glaubens. Aber die pluralistische gesellschaftliche Lebensrealität mit ihrer Vielzahl an divergierenden und sogar konfligierenden ethischen und religiösen Überzeugungen machen einen Minimalkonsens vom Guten, der weder eine bestimmte Lebensweise noch ein bestimmtes Lebensziel vorschreibt und auf die unteilbaren individualistischen Werte beschränkt ist, notwendig.

In der Praxis bedeutet das, dass der neutrale Staat zur rechtlichen Gleichbehandlung der verschiedenen Weltanschauungen verpflichtet ist und seine Institutionen nicht der Realisierung eines partikulären ethischen oder religiösen Ideals dienen dürfen. Pluralismus ist ein konstantes Merkmal demokratischer Gesellschaften und könnte allenfalls mittels staatlicher Gewalt, die Andersdenkende unterdrückt, überwunden werden. Hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit Politiker, die immer wieder von Leitkultur und dem abendländischen christlich-jüdischen Erbe sprechen auch einmal den Blick über den Tellerrand haben schweifen lassen, um zu schauen, wo dieses christlich-jüdische Erbe entstanden und vor allem wie und durch wen es ins Abendland gelangt ist?

Muslime, die ihren Glauben auf rationales Verstehen gründen, das aus islamischer Sicht die Prämisse des Glaubens ist, haben keinerlei Problem damit, dass ihre eigene Wahrheit nicht zwangsläufig auch die Wahrheit des anderen sein muss. Es gibt so viele Wege zu Gott wie es Menschen gibt, lautet ein Ausspruch des Propheten des Islam. Es ist der diesen Worten inhärente Respekt für das Andere, mir Fremde oder möglicherweise auch Unverständliche, und die im Grunde damit einhergehende Motivation, die eigene Sicht zu überdenken und gegebenenfalls zu relativieren, der die besondere Faszination des Islam ausmacht.

Es ist eine zutiefst bedauernswerte Erfahrung, dass der Islam in der europäischen Diskussion seiner spirituellen Wahrheit nahezu gänzlich beraubt wird und grundlegend charakterisiert ist durch Konflikt und Diskurs. Was wir brauchen ist also nicht mehr Toleranz, sondern wie zuvor ausgeführt, mehr Respekt im Umgang miteinander. Wie bereits erwähnt: Weder ein Deutsch- noch ein Integrationskurs wird mich in dieser Gesellschaft ankommen lassen, solange das gesellschaftliche Miteinander nicht von dem Gedanken getragen ist, dass mich als Bürgerin dieses Landes oder allgemein gesprochen als Mensch hinsichtlich meiner Würde und meiner elementaren Grundrechte per se nichts von den anderen Bürgerinnern und Bürgern dieses Landes unterscheidet. Das gelebte Miteinander der Kulturen und Religionen verwandelt auf der individuellen persönlichen Ebene Fremdheit oftmals in Vertrautheit; auf der öffentlichen, massenmedial geprägten Ebene besteht in dieser Hinsicht allerdings noch erheblicher Handlungsbedarf.

Zaynab Khamehi

[1] Erklärung von Prinzipien der Toleranz, 28. Generalkonferenz der UNESCO, Paris 1995. [2] „Ist Konvertitentum eine neue Form von Widerstand, sozusagen als RAF des 21. Jahrhunderts?“, Welt online, article1164468/Der Islam ist keine Feiertags-Religion, 07.09.07; „Mysterium Konversion, SZ vom 08./09. 09.07; „Terrorismus hausgemacht. Konvertiten sind ideale Opfer islamistischer Terrorwerber.“ Die Zeit 37/2007; „Niemand ist so beunruhigend wie der islamische Konvertit.“ taz, 19.09.07 usw. [3] Johann Wolfgang von Goethe, Werke (Hamburger Ausgabe in 14 Bänden), Bd. 12, Schriften zur Kunst und Literatur, Maximen und Reflexionen, München 1998, S. 385. [4] Jacques Derrida u. Jürgen Habermas, Philosophie in Zeiten des Terrors, Frankfurt 2001, S. 168. [5] John Rawls, Political Liberalism, New York 1993.