Der Weg zur wahrhaften Selbstliebe

Mahnaz Mashreqi

Es besteht kein Zweifel daran, dass sich jeder vernünftige Mensch selbst liebt. Diese Liebe hat mit der natürlichen Veranlagung zu tun und manifestiert sich in verschiedenen Formen, wovon zwei besonders wichtig sind. Die erste Form zeigt sich in der Zuwendung zum ewigen Dasein, die mittels fundierter Kenntnisse zu erlangen ist, und nicht mit dem diesseitigen Materialismus oder oberflächlichen Prahlereien zusammenhängt. Die Wahrheit der Menschen verbirgt sich nämlich nicht in ihrem materiellen Körper, sondern hat mit ihrer ewigen Seele zu tun. Diese ewige Seele verlangt nach etwas Ewigem, nämlich dem Jenseits. Der Mensch sollte sich daher nicht in seinem irdischen Körper einsperren, sondern sich auf den Übergang in die Ewigkeit vorbereiten. Er wünscht sich den Fortbestand; dieses Bedürfnis ist sehr real und es muss eine Welt geben, in der es befriedigt wird.

Eine weitere Manifestation der Selbstliebe findet im Streben nach Vollkommenheit statt, die sich mit dem Trieb zum Fortbestand vereint. Die Vervollkommnung ist nämlich ohne Fortbestand nicht möglich; so strebt der Mensch nach Dingen, die sein Wesen vervollkommnen, was etwas gänzlich anderes ist als das schiere Überleben sichern zu wollen. Auch die Neigung zur Vervollkommnung manifestiert sich aufgrund der verschiedenen Stufen der Kenntnis darüber in verschiedenen Formen. Betrachtet der Mensch die Vervollkommnung als eine irdische Angelegenheit, wird er sich materiellen Dingen zuwenden und wählt auch seine Freunde entsprechend. Sieht er aber den immateriellen, spirituellen Aspekt der Vervollkommnung, wonach er aufgrund seiner Veranlagung strebt, wird er sein Verhalten sowie seine Gesinnung danach ausrichten und auch seine Freunde entsprechend vorsichtiger auswählen.

Such nach der Bedeutung, wenn Du nach Formen strebst.

Denn die verborgene Bedeutung ist die schönste aller Formen.

Geselle Dich zu denen, die die Bedeutung verstehen.

Von denen wirst Du nämlich beschenkt,

während Du mit ihnen verschmilzt.

Ein bedeutungsloses Leben in diesem,

gleicht zweifelsohne einem hölzernen Schwert in seiner Hülle.[1]

Selbstliebe ist der erste Schritt, um Allah zu erkennen. Eine wichtige Frage diesbezüglich lautet, wie man nun sich selbst lieben kann: Was soll ich denn an mir lieben? Kenne ich mich denn überhaupt? Wer oder was bin ich eigentlich? Kann ich etwas anderes lieben als das Gute, das Reine, das Schöne? Wenn ich so etwas in mir finde, darf ich dann sagen: dass ich das sei? Oder bin ich nur der Spiegel für das Licht Allahs? Wir sollten uns die wichtige Frage stellen: „Wer bin ich?“. Die Antwort lautet: Ich bin ein Geschöpf Allahs! Ich bin es wert geliebt zu werden, auch wenn der Liebende ich selbst bin.

Aber ich darf nicht auf der Stufe der Selbstliebe stehen bleiben. Vor Allah bleibe ich immer unvollkommen. Aber Er hat einen Plan für mich, ein Ziel, etwas, dass Er mir ins Herz geschrieben hat und dass mein wahres Selbst repräsentiert. Mich selbst lieben heißt demnach auch, mich nach Allahs Willen auf dieses Ziel hinzubewegen. „Mich“ so zu lieben, wie Allah mich haben möchte. Wie Er es für mich vorgesehen hat. Denn nur das kann ich in und an mir lieben, was Er mir eingehaucht hat. Um das zu erfüllen, was Er für mich vorgesehen hat, brauche ich die Selbstliebe.

Die Art und Weise, wie ich mich selbst betrachte, bestimmt, ob und in welcher Weise ich mich selbst lieben und schätzen kann. Wir sollten die Stufe erreichen, auf der wir erkennen, dass unser Ich eigentlich ein Mittel zur Erkenntnis des Wahrhaftigen und des Wesentlichen ist. Es sollte nicht zu einer Instanz werden, die zu Egoismus und Überheblichkeit führt. Es dient der Erkenntnis des eigenen Ursprungs. Wenn wir dieses Ich nur als Mittel zur Erkenntnis behandeln, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Es gibt aber auch eine negative Seite des Ichs, die beherrscht und zurückgehalten werden sollte. Das Ich, das ein Hindernis auf dem Weg zu Allah darstellt. Diesbezüglich spricht Rumi sinngemäß: „O Allah, entferne mein Ich, das zwischen Mir und Dir trennt.“ Auch Imam Ali (a.) sprach diese Thematik zutreffend an: „Diese Welt blendet, wer sie anschaut und lässt sehen, wer Durch sie schaut“. Und so verhält es sich auch auf der Ebene des Ichs mit seinen beiden Seiten: dem diesseitigen und dem jenseitigen Ich. Das diesseitige Ich ist ein Götze, der verblendet – das jenseitige Ich ist ein Mittel zu Allah.

Der Weg zur wahrhaftigen Selbstliebe

Die Frage, die sich nun stellt, ist, wie man das negative Ich besiegen kann, um Allah näher zu kommen. Dies kann in Stufen bzw. nach und nach erreicht werden. Auf jeder Ebene kann man einen Aspekt des negativen Ichs entfernen, indem wir eine bestimmte Strategie anwenden. In der Mystik werden sieben Stufen genannt, die durchlaufen werden müssen, damit jemand zur Selbsterkenntnis gelangt. Wir werden nicht die sieben mystischen Stufen behandeln, die nicht direkt zu unserem Thema passen. Aus diesem Grunde werden wir uns mit drei anderen Ebenen befassen, die in diesen Rahmen gehören.

Die Ebene der Taten

Auf der Ebene der Taten (äußerlich sichtbar) sollten wir zumindest das tun, was Allah gebietet und das vermeiden, was Allah verbietet. Zudem ist zu bedenken, dass Allah derjenige ist, der das Leben schenkt und dieses nimmt und dass Er uns durch Krankheiten prüft und auch über die Heilung bestimmt. Alles Gute geschieht Durch Allah, alles hat seinen Ursprung bei Allah und wenn ich etwas Gutes mache oder etwas Schlechtes vermeide, dann ist das eine Gnade von Ihm und ist nur mit seiner Unterstützung möglich. Wir wirken Durch Allah. Das sollte unsere Erkenntnis sein.

Die Ebene der Moral

Auf dieser inneren Ebene müssen wir unsere Absichten reinigen und versuchen eine göttliche Motivation für unsere Taten zu erlangen. Der Antrieb meiner Taten und der Anlass für meine Taten sollte stets die Sehnsucht nach der göttlichen Nähe sein. Gute Taten sollten nicht aus Neid oder aufgrund der Angeberei vollbracht werden, sie sollten keinen egoistischen Zwecken dienen oder nur als Selbstzweck ausgerichtet sein.

Der Teufel spricht: Der Sohn Adams ist in meinen Händen, wenn ich das schaffe, dass derjenige seine Taten als groß und unermesslich betrachtet, dass derjenige seine Sünden vergisst, und dass derjenige sich selbst gefällt[2]. Wenn wir unsere Taten als wenig betrachten, werden wir nicht in die Falle des Teufels geraten, auch wenn wir Freude an guten Taten haben, denn die guten Taten sind es, die uns die Liebe von Allah spüren lassen, und erst so spüren wir eine göttliche Liebe in uns, indem wir das Gefühl haben, dass Allah uns liebt.

Die Ebene des Ichs

Die Ebene des Ichs stellt noch eine höhere Ebene dar. Diese Ebene zeichnet sich dadurch aus, dass wir nicht nur auf den beiden vorigen Ebenen selbstlos wirken, sondern auch die Kenntnis darüber haben, dass all diese positiven Eigenschaften unserem Schöpfer zuzuschreiben sind und die Offenbarung seiner Eigenschaften darstellen. Wenn wir also unser egoistisches Ich vergessen und uns damit befassen seine schönsten Namen zu erleben, genau dann ist man ein wahrhaftiges Geschöpf.

Der Weg zu Allah besteht aus zwei Schritten: Beim ersten Schritt tritt man metaphorisch betrachtet auf den Nacken seines Ich’s und beim zweiten Schritt ist man schon bei Allah. Wo ist aber die Selbstliebe geblieben? Die Selbstliebe ist eigentlich genau diese grenzenlose Liebe zu Allah, weil wir uns dann nur als Offenbarung sehen. Wir sind die Erscheinung der göttlichen Eigenschaften, vor allem, wenn wir diese erwähnte höchste Stufe des Staunens erreichen. Möge Allah es uns erlauben, sie zu erleben und uns aus der Dunkelheit des Unwissens zum Licht führen. Nur wer den Wert seiner Schöpfung erkennt, kann sich auf eine göttliche Art lieben, und wer sich selbst erkennt, erkennt Allah[3].

Im letzten Abschnitt möchte ich auf einige weitere zentrale Aspekte der Selbstliebe zu sprechen kommen, die ebenfalls direkt das eigene Leben und Zusammenleben mit anderen beeinflussen:

  • Selbstliebe sollte sich an dem erfreuen, wie wir sind, und unsere Fehler als Lernpotenzial anerkennen. Du wurdest so geschaffen und das hat seinen Grund! Sei stets dankbar!
  • Wenn Du dich selbst nicht liebst, wirst Du auch nie jemand anderen lieben können. Ohne Selbstliebe gibt es keine Nächstenliebe! Denn wie wir weiter oben gesehen haben, hängt gesunde Selbstliebe nicht mit Egoismus zusammen.
  • Wenn man sich selbst lieben kann, muss man es nicht mehr jedem Recht machen, die Suche nach äußerlicher Anerkennung und Zuwendung hat dann ein Ende.
  • Weiter lernst Du Dich selbst zu respektieren und auf dein Herz zu hören! Du erhältst Selbstvertrauen und innere Stärke durch Liebe. Dein Leben und das deiner Mitmenschen wird positiv beeinflusst und Du erlangst eine emotionale Ausgeglichenheit – innere Ruhe macht sich in dir breit.
  • Erst wenn wir es geschafft haben, uns selbst zu lieben, wird die Liebe zu uns kommen. Dann erst sind wir in der Lage, Liebe auszusenden und Liebe zu empfangen! Wenn man das eigene Dasein nicht schätzt und sich und die anderen nicht lieben kann, kann man für unmenschliche Zwecke missbraucht werden, wie z.B. der Anschluss von Menschen an Terrororganisationen wie dem IS zeigt.
  • Höre die Stimme Allahs in Deinem Inneren. Er ist Dir näher als Deine Halsschlagader. Höre das Schlagen deines Herzens, das dein gutes Wesen umfasst, das Wesen, das wiederum Gottes Offenbarung ist. Die Offenbarung der Liebe und Reinheit. Wer auf der Welt strebt nicht nach wahrhaftiger Liebe und Reinheit?
  • Respektiere Dich selbst – übernehme Verantwortung für Dich und für Dein Leben! Bleibe auf dem Weg der Vervollkommnung, „dein Heute sollte besser sein als das Gestern“, sagt Imam Ali (a.), in dem Sinne, dass man sich kontinuierlich auf dem Weg der Selbsterkenntnis und des Wesentlichen bewegen sollte.

Mögen wir alle auf dem Weg der Vervollkommnung und wahrhaftigen Selbsterkenntnis durch gesunde Selbstliebe bleiben. Amin!

 

[1] Rumi, Masnawi, 1. Buch 710 bis 712, nach Ramezani, 2005.

[2] Aus dem Buch: Achlak Ahl-ul-bait.

[3] Quelle: www.schia-forum.de