Allama Muhammad Taqi Jafari
Vor Beginn des Diskurses über das Thema sind die vier folgenden Hauptfragestellungen zu besprechen:
Göttliche Gerechtigkeit
Sie besteht aus dem Willen, der Tat und dem Wort Gottes auf Grundlage der göttlichen Weisheit – die erhabene Ordnung der sogenannten Welt des Seins ist nur eine der beobachtbaren Manifestationen jener göttlichen Weisheit. Dieses Attribut ist eine der höchsten und vollkommensten göttlichen Eigenschaften, deren Zuordnung zu Gott erst mit der richtigen Erkenntnis und dem Verständnis des Begriffes Seines heiligen Wesens begreiflich wird. Die göttliche Gerechtigkeit wird durch zwei Argumente bewiesen:
Erstes Argument: Die absolute Vollkommenheit Seines heiligen Wesens setzt voraus, dass Er alle vollkommenen Eigenschaften besitzt, wie z.B. Wissen und Macht. Das Fehlen einer dieser vollkommenen Eigenschaften, die ein Beweis für das göttliche Wesen sind, bzw. die Annahme der Mangelhaftigkeit Seines göttlichen Wesens kommt der Negierung Seines heiligen Wesens gleich.
Zweites Argument: Die Annahme, dass Gott nicht gerecht sei, setzt voraus, dass Er entweder ein Tyrann ist oder möglicherweise Tyrannei ausübt. Die Beweisführung für beide Fälle ist im Hinblick auf Gott ein Ding der Unmöglichkeit, denn das Unrecht entspringt Bedürfnissen oder ist eine Folge von „Unersättlichkeit“. Nach einer anderen Auffassung ist es eine Folge von Unwissenheit. Unter Berücksichtigung der absoluten Vollkommenheit Seines göttlichen Wesens ist es ein Ding der Unmöglichkeit, Ihm als einem absoluten Wesen diese drei Wesensäußerungen (Bedürfnis, Unersättlichkeit und Unwissenheit) zuzuordnen.
Es versteht sich von selbst, dass wir wegen jener Beschränktheit unseres Erkenntnisvermögens und unserer Gemütsneigungen nicht imstande sind, das Wesen der göttlichen Gerechtigkeit in all ihren Dimensionen zu erkennen und zu begreifen, aber diese Unzulänglichkeit steht keineswegs im Gegensatz zu dem Glauben daran, dab Gott die Eigenschaft der „Vollkommenheit“ besitzt, genauso wie unsere Unfähigkeit beim Erkennen und Definieren der Wahrheit des Schönen in keinem Gegensatz zu der Wahrnehmung der mannigfaltigen Erscheinungen des Schönen steht.
Göttliche Gerechtigkeit, Bοsheit und willkürliche Unannehmlichkeiten
Im Laufe der Geschichte hat die Tatsache, dass die Bosheit und die Unannehmlichkeiten in der Welt, ganz besonders in der Welt der Lebewesen und da vor allem in der menschlichen Welt weit verbreitet sind, vielen Menschen Kopfzerbrechen bereitet, was zu Leiden und zu psychischen Problemen führte. Die Wissenschaftler und die Gelehrten haben auf diese Problematik Antworten vorgelegt, die eine Untersuchung wert wären. Für dieses Problem kann man noch relativ einfach eine Antwort finden. Sie lautet, dass wir Menschen, wie der chinesische Philosoph Laotse gesagt hat: „[…] im großen Theaterstück des Seins sowohl Schauspieler als auch Zuschauer [sind].“ Die Erkenntnis von uns Menschen ist demnach eine Folge der reellen Existenz der Dinge und unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnismechanismen hinsichtlich jener reellen Dinge.
Wir sehen große Gegenstände von weitem als kleine. Wir sehen die drei Propeller des elektrischen Ventilators bei schneller Umdrehung als einen wirklichen Kreis.[2] Der Fortschritt der Wissenschaften und der Labore hat, auch wenn er imstande ist unser Spiel in mancher Hinsicht zu reduzieren, nicht die Macht, die Realitäten zu vermitteln, ohne dass sie die dem Wesen dieser Labore und den Faktoren des Wissens und auch unserem inneren Wesen spezifischen Koordinaten mit einbeziehen. Daher schwindet das Spielen in der Erkenntnis nicht gänzlich. Unser Spiel bei der Aneignung der den Menschen betreffenden Wissenschaften bekommt eine große Intensität, weil wir selbst hier der Gegenstand der Erkenntnis sind und alles, was wir in uns sehen, auf die anderen übertragen.
Unsere Freude und Leid, unsere Schmerzen und Genüsse wirken auf unsere Sichtweise und unser Urteil über die Welt und sogar über Gott. Eine Person, die gegenüber der Natur des Menschen skeptisch ist, bezieht andere in diese spezifische seelische Haltung mit ein und interpretiert jede Erscheinung und Wahrheit, die sie bezüglich des Menschen erkennt, auf der Grundlage dieser spezifischen seelischen Haltung.
Nun können wir jene erwünschte Antwort auf das oben angesprochene Problem finden. Sie lautet, dass wir Menschen entsprechend unserer Wünsche und Neigungen der göttlichen Gerechtigkeit eine Bedeutung beimessen, die mit der Wirklichkeit dieser Eigenschaft „Vollkommenheit“, welche die göttliche Weisheit ist, nicht übereinstimmt. Dies bedeutet, dass unser Leben jenen Grad der Vollkommenheit erreicht haben muss, sodass wir ohne geringste Anstrengung über jedes Ding Erkenntnis gewinnen. Wir wollen, dass uns nichts Kopfschmerzen bereitet. Wir wollen dieses vollkommene Leben, das für uns sehr angenehm sein kann, in einem Moment und in einem Willenszug erreichen. Wir wollen Macht und Reichtum und alle Genüsse haben. Noch mehr: Wir wollen nicht, dass uns der Tod ereilt.
Mit dieser Erklärung, die wir hinsichtlich unseres Lebens, wie es sein soll und wie es sich gebührt, abgeben, meinen wir, dass die göttliche Gerechtigkeit so sein müsse, dass Er uns alles, was wir uns wünschen, zuteilwerden lässt und alles, was uns schadet, von uns fernhält. Also drehen sich unsere Gedanken um die göttliche Gerechtigkeit um unsere Genüsse und Wunschbilder. Um diesen Sachverhalt vollständig zu klären, bringe ich ein klares Beispiel:
Nehmen wir an, uns erreicht soeben die Nachricht, dass die natürliche Lage aller Himmelskörper (Galaxien und Quasare) völlig durcheinandergeraten ist, die Richtung der Bewegungen verändert ist, ihre kosmischen Lagen eine völlige Änderung erfahren haben. Bei all diesen Veränderungen und Verwandlungen ist jedoch das Leben keines einzigen Lebewesens bedroht worden. Beim Hören dieser Nachricht fragen wir sofort, wo die Planetarien sind, damit wir uns anschauen, nach welchen kausalen Grundlagen diese Veränderungen stattgefunden haben. Wir führen keine Diskussion über die göttliche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Warum? Weil keinem Lebewesen Schaden widerfahren ist. Vielmehr beginnen wir mit wissenschaftlichen Recherchen und Anstrengungen, um die Bedingungen für diese Veränderungen zu erkunden und zu verstehen.
Aber wenn uns eine harmlose Krankheit befällt oder wenn wir etwa beim Überqueren der Straße nicht aufpassen und in eine Grube fallen und uns dabei den Fuß verletzen und dadurch Schmerzen empfinden, dann verwandeln wir uns sofort in einen Philosophen und fragen uns „was ist das denn für eine Gerechtigkeit?“ Das macht deutlich, dass wir die göttliche Gerechtigkeit durch die Brille des Biozentrismus betrachten und beim Auftreten der kleinsten Schäden in unserem Leben die göttliche Gerechtigkeit leugnen oder anzweifeln.
Aber das Gefühl, dass es in der Schöpfung mancher Lebewesen, ganz besonders in der der Menschen, Mängel gibt, entspringt daraus, dass wir in Anbetracht unseres begrenzten Wissens und unserer Lebenserwartung für die Vollkommenheit eine Ideallinie ziehen; sagen wir etwa, dass alle Menschen hinsichtlich der Persönlichkeit und der seelischen und gedanklichen Qualitäten dem Idealmenschen gleichen. Der geringste Mangel, der von dieser Linie abweicht, wäre dann ein Wertverlust und daher negativ.
Bei dieser kurzsichtigen Beurteilung merken wir nicht, dass diese Ideallinie dadurch entstanden ist, dass wir unsere träumerischen Wünsche und Phantasien über das Sein, wie es sein soll, schön ausgemalt haben, ohne dass wir die Wahrheit und Ordnung der existierenden Welt überschauen können.
Göttliche Gerechtigkeit aus der Sicht der islamischen Quellen
Der Glaube an diese Vollkommenheit Gottes in der islamischen Lehre, ganz besonders im Sinne davon, dass Gott keine Tyrannei ausübt, ist einer der wesentlichen Glaubensaspekte. Und dies führt dazu, dass wir wie oben erwähnt die Gerechtigkeit als Gegenteil der Tyrannei auffassen.
Diese Bedeutung für die Gerechtigkeit geht mit der Meinung mancher Muslime einher, die sagen: „Wir sind nicht imstande, das Wesen und die Wahrheit der göttlichen Gerechtigkeit zu verstehen“ – wir werden dies bei unseren Diskussionen sehen. Das setzt nicht voraus, dass wir die göttliche Gewissenhaftigkeit[3] durch die Negation von Tyrannei, welche die grausamste Eigenschaft ist, akzeptieren. Und das setzt auch nicht voraus, dass wir Gott dazu verpflichten, Gerechtigkeit walten zu lassen. Im Hinblick auf die höchste Vollkommenheit, nämlich die Eigenschaft „Gerechtigkeit“, die nur Seinem göttlichen Wesen gebührt, und in Anbetracht der Grausamkeit der Tyrannei
sowie deren Entstehen aus Trieben, Unersättlichkeit oder Unwissenheit sagen wir ja, dass Gott gerecht ist. Um es hier mit Molana [4] zu zitieren: „Ich bin nicht der Herrscher, ich erzähle nur“. Das bedeutet: Wir sagen nicht, Gott müsse unbedingt Gerechtigkeit ausüben, sondern im Hinblick auf die genannten Aspekte sprechen wir die Tatsache aus: Gott ist gerecht.
In den Versen des Heiligen Qur’ans wird die göttliche Gerechtigkeit in vier Modi angesprochen:
- Es gibt zwei Verse, in denen die Worte Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit vorkommen:
1) Al-An’am | 6:115:
„Und das Wort [kalim] deines Herrn ist Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit ist in Erfüllung gegangen. Es gibt niemand, der seine Worte (durch die alles von vornherein bestimmt ist) abändern könnte.“[5]
2) Al-i-Imran | 3:18:
„Gott bezeugt, dass es keinen Gott gibt außer Ihm. Desgleichen die Engel, die das (Offenbarungs-) wissen besitzen. Er sorgt für die Gerechtigkeit.“
- Es gibt Verse, in denen Gott Tyrannei und Gewaltanwendung abgesprochen werden, wie z.B. in der Sure An-Nisa | 4:40:
„Gott tut (bei der Vergeltung im Jenseits) nicht im Gewicht eines Stäubchens Unrecht.“
III. Es gibt Verse, in denen Gott als weise vorgestellt wird, wie z.B. in der Sure Al-Ma’ida | 5:118:
„O Gott, du bist mächtig und weise“.
Und es ist selbstverständlich, dass Tyrannei und das Fehlen von Gerechtigkeit, in welcher Bedeutung man sie sich auch vorstellt, der Weisheit widersprechen. Es sind insgesamt 90 Verse, in denen von der Weisheit Gottes gesprochen wird.
- Es gibt Verse, in denen die Niederträchtigkeit, die Grausamkeit und das böse Ergebnis der Tyrannei und Gewaltanwendung erwähnt werden, wie in der Sure al-Kahf | 18:87):
Er sagte: „Wenn einer frevelt, werden wir ihn bestrafen.“[6]
Wir lesen in Sure al-Ma’ida (al-Ma’ida | 5:8):
„Der Hass, den ihr gegen (gewisse) Leute hegt, soll euch ja nicht dazu bringen, dass ihr nicht gerecht seid. Seid gerecht!“
Dieser Vers und andere Verse stellen das wichtigste Prinzip des sozialen vernünftigen Lebens gegenüber der Motivation des Kampfes ums Überleben dar. Dieses Prinzip beweist die Wahrheit, dass der Mensch auf dem Weg zur Entwicklung im Kampf ums Überleben nicht mit Tyrannei und Gewaltanwendung handeln soll, weil die Basis des gesamten Seins und des Lebens aus Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit besteht, wie es in der Sure al-An’am (6:115) heißt:
„Und das Wort deines Herrn ist in Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit in Erfüllung gegangen. Es gibt niemanden, der seine Worte (durch die alles von vornherein bestimmt ist) abändern könnte.“
Das ist das Leben spendende Wasser der Gerechtigkeit, das das Feuer der Feindschaft und Rache löscht.
4) Gerechtigkeit menschlicher Art
Sie besteht aus Tat, Wort, Zielsetzung und Denken des Menschen auf der Grundlage des Respekts vor dem Gesetz. Ihre Wahrheit, ihre Notwendigkeit und ihr Wert liegen außerhalb der inneren Natur des Menschen. Das bedeutet, dass der Mensch für die Ausgewogenheit der Gerechtigkeit gemäß einem Gesetz handelt, dessen Wahrheit, Notwendigkeit und Wert durch Loslösung von menschlichen Gemütsneigungen und Beziehungen bewiesen worden sind. Und diese Handlung muss den Respekt vor dem Gesetz als Motivation haben.
Der Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit ist eben dieser. Denn die göttliche Gerechtigkeit entspringt nicht der Übereinstimmung von Tat, Wort und Zielsetzung Gottes mit einem außerhalb Seines Wesens liegenden Gesetz, sondern Seine Gerechtigkeit stammt aus Seinem absoluten Reichtum und Seiner absoluten Weisheit. Sie gehören als Würde und Ansehen zu seinem Wesen. Nun wenden wir uns dem Thema des Referates zu:
Gerechtigkeit und Motivation der Macht im Kampf ums Überleben
Unter der vierten Fragestellung erwähnten wir: die Gerechtigkeit menschlicher Art besteht aus Tat, Wort, Zielsetzung und Denken des Menschen auf der Grundlage des Respekts vor dem Gesetz. Ihre Wahrheit, ihre Notwendigkeit und ihr Wert liegen außerhalb der inneren Natur des Menschen. Die Folge aus dieser Definition ist, dass ein Mensch, der sich nicht auf der Basis des Respekts vor dem Gesetz bewegt, nicht gerecht ist. Die Bedeutung dessen, dass ein Mensch sich nicht auf der Basis des Respekts vor dem Gesetz bewegt – vorausgesetzt, dass dessen Wahrheit, Notwendigkeit und endgültiger Wert bewiesen worden ist – ist dies, dass so ein Mensch sein Leben von der natürlichen Ordnung, die über das Sein herrscht, und von moralischen, religiösen und rechtlichen Gesetzen losspricht oder sich über sie stellt bzw. ihrer nicht bedarf. In beiden Fällen ist dieser Mensch abtrünnig und handelt ungesetzlich, auch wenn die Macht, die er besitzt, dies verhüllen sollte. Abweichung von Gerechtigkeit ist eine Art Kampf gegen sich selbst. Die Abweichung vom Gesetz bzw. dessen Ignorierung ist nämlich eine Art Kampf gegen sich selbst. Die erste edle Empfindung der inneren Natur des Menschen ist das Begreifen dieser Tatsache, dass die menschliche Seele und Persönlichkeit nicht nur auf der Ebene des gesetzmäßigen Seins ein Gegenstand der für den Menschen spezifischen Gesetze ist. Daher kann man sagen, dass wer nicht gerecht ist, nicht über eine strebsame und fleißige Persönlichkeit in der zielgerichteten Welt verfügt. Daher misst der ungerechte Mensch seinen Artgenossen keine Bedeutung bei und legt ebenso wenig Wert auf Pflichten, Rechte und das Gesetz überhaupt. Die notwendige Folge aus diesem Gefühl der Unbedarftheit ist die Auflehnung gegen jeden Grundsatz, jedes Gesetz und jeden Wert.
Gott, er sei gepriesen, sagt (al-Alaq | 96:6-7):
„Der Mensch wird tyrannisch sein, wenn er sieht, dass er keine Bedürfnisse hat“.
Die Voraussetzung für Ungehorsam ist Verdorbenheit auf Erden, so wie Gott der Erhabene sagt (al-Fadschr | 89:7-10):
„Hast du nicht gesehen, was Dein Schöpfer mit ‘Ad und Thamud machte?“ Und was er machte mit dem Pharao, dem Besitzer der Nägel (er nagelte die Körperteile derjenigen, die er durch Folter töten wollte, auf den Boden. Es waren Frevler, die den Städten Aufstände und folglich viel Verderben brachten.)
Also ist das, was die Ursache für Auflehnung ist, nicht das Gefühl der Macht selbst, sondern das Gefühl, keiner Prinzipien und Gesetze zu bedürfen, auch wenn kein Gefühl der Macht vorliegt. Einer der größten Fehler, der vielleicht Jahrhunderte lang Menschen und Experten in die Irre geführt hat, ist die Übereinstimmung oder Gleichzeitigkeit des Gefühls von Macht und Ungehorsam, was Verdorbenheit mit sich bringt.
Das ist eben dieser bekannte Fehler, der sehr oft den Machthabern die genannte Gleichzeitigkeit suggeriert, sie sogar zum Aufruhr und zu Ungehorsam anstiftet, während Macht und Kraft die wesentlichsten Faktoren sind, die die existierende Welt in Bewegung setzen. Deshalb muss man sagen: Eine der großartigsten Manifestationen der erhabensten Attribute Gottes sind eben diese Macht und Kraft. Sie werden in den religiösen und philosophischen Büchern ausdrücklich Seinem göttlichen heiligen Wesen zugeordnet. Gott ist mächtig, Gott ist stark.
Wir beobachten in der Geschichte einige erhabene Propheten und göttliche Gesandte, wie Sulayman, David und Muhammad (s.) als die gerechtesten Männer der Geschichte waren, obwohl sie über gewisse natürliche und rechtliche Macht verfügten. Um die Nutznießung der Macht mit der Logik der Gerechtigkeit, die den Menschen erst konstituiert, in Einklang zu bringen, muss die Bedeutung von Macht genau bestimmt werden. Solange die professionellen Denker der Humanwissenschaften und die Philosophen die Macht als vernichtende Kraft gegen das, was ihr entgegentritt, interpretieren, wird der Menschheit ein wahrhaftiger Gebrauch von Macht dieser größten Gabe Gottes und dieses essentiellsten Faktors des Werdens und der konstruktiven Entwicklungen verwehrt bleiben. Je länger die Denker und die Hüter der islamischen Lehre und Tradition die Erörterung des Begriffs der Macht hinauszögern, desto mehr Schaden erfährt die Menschheit.
Es muss gesagt werden: da die Macht in all ihren Erscheinungsformen an und für sich eine unwissende und unfähige Realität hinsichtlich ihrer eigenen Herrschaft und ihrer Organisation ist, wird sie, sobald sie von jener Gruppe von Menschen in Anspruch genommen wird, die keinerlei Kontrolle über sich bzw. keine Selbstbeherrschung haben, keinen Unterschied zwischen Vernichten oder Aufbauen machen, zumal sie auch das Gefühl der völligen Unabhängigkeit hervorruft. Aber da der Egoismus einem Vulkan gleicht, ist die Grundlage der Ausübung der Macht seitens der Egoisten Verwüstung und Verbrennung.
Da die Macht der treibende Faktor für Veränderungen ist und es selbstverständlich ist, dass nicht jede Veränderung nützlich sein muss, sondern dass die Macht möglicherweise die schädlichsten Veränderungen verursachen kann, ist diese das subtilste Anliegen für das menschliche Leben, ob individuell oder gesellschaftlich. Die Macht ist im Hinblick auf die Unwissenheit und der Größe ihrer Identität – unter Berücksichtigung der Inhalte der heiligen Schriften und der leuchtenden Linie der Propheten Gottes – die eigentliche Macht der Selbstbeherrschung.
Geben Sie einem Menschen, der seine Triebhaftigkeit beherrscht, die Macht über die Welt, so wird niemand von ihm Schaden erleiden, vielmehr wird er die Macht zur Entfaltung oder Verbesserung des vierseitigen Verhältnisses (1. das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, 2. das Verhältnis des Menschen zu Gott, 3. das Verhältnis des Menschen zur existierenden Welt, 4. das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen) bestens einsetzen, denn wer über sich herrscht, der muss sich selbst gut kennen, und wer sich gut kennt, kennt seinen Gott und die Menschen. Er hat den göttlichen Wert aller Wahrheiten des Seins (Mensch und Nicht-Mensch) erkannt.
Solche Erkenntnisse und Einsichten führen dazu, dass der Mensch einen maximalen Nutzen aus Macht zum Zwecke der Verbesserung und Regulierung der vierseitigen Verhältnisse zieht. Eine Erklärung für einen weiteren Beweis darüber, dass die eigentliche Macht die Selbstbeherrschung ist, lautet: die Macht der Selbstbeherrschung hindert nicht daran, die existentielle Grenze des anderen zu überschreiten, sie erkennt das Leben und den Willen des anderen in gleichem Maße an wie das eigene Leben und den eigenen Willen; solch ein Mensch ist mächtig, er betrachtet das Leben und die Wünsche anderer Menschen nicht als Störfaktor für sich, im Gegenteil muss man sagen: Der schwächste Mensch auf der Erde ist der, der trotz Machtbesitzes unfähig ist, mit anderen Menschen zu leben, der auch unfähig ist, die Macht zur Gestaltung des eigenen Lebens und des der anderen anzuwenden, sodass er zur Waffe des Überlebenskampfes greifen muss. Daher sagen wir, dass die Motivation des Überlebenskampfes im Fehlen der Selbstbeherrschung liegt. Das steht im Gegensatz zur Gerechtigkeit steht, was wiederum den Menschen statt zur Kooperation und zur gemeinschaftlichen Hilfe in Koexistenz zum Überlebenskampf bewegt.
Wenn Sie alle Kapitel der Geschichte sorgfältig studieren, werden Sie feststellen müssen, dass der Ursprung und die eigentliche Ursache aller bösen Taten, Aggressionen und Rechtsverletzung im Fehlen der Selbstbeherrschung liegt. In Vancouver wurde im September 1998 eine Konferenz veranstaltet. Es wurde empfohlen, dass wenn der Mensch zu seiner Geschichte das kommende Jahrhundert hinzufügen wolle, er seinen Egoismus unbedingt aufgeben müsse. Wir empfehlen mit allem Nachdruck den Machthabern ihres eigenen wie auch des menschlichen Überlebens wegen ihren Egoismus aufzugeben und ihn in die Sorge um die Vervollkommnung ihres inneren Wesens zu verwandeln.
Aus diesen Erörterungen können wir einen lebenswichtigen Schluss ziehen, nämlich dass die Gerechtigkeit der Selbsterhaltung und des ewigen Glücks eine natürliche Selbstkontrolle in sich trägt, der Egozentrismus dagegen den Kampf ums Überleben, wobei der Kampf ums Überleben zu Vernichtungsmanövern im Alleingang führt. Eine der wirksamsten Waffen, mit denen sich die Anhänger der Selbsterhaltungstheorie gegen Gerechtigkeit und gegen deren Vertreter ausrüsten, waren scheinbar wissenschaftliche Aussagen über den Grundsatz der natürlichen Selektion; diese Waffe wurde leider durch manche Gelehrte geschärft und jenen vernunftlosen Übeltätern zum Gebrauch vorgelegt. Die Geschichte ist folgende: einige Biologen, allen voran Charles Darwin, haben den nicht bewiesenen Vorgang, dass sich nämlich die Bühne des Lebens unter Vorherrschaft der Mächtigen befindet und dass in der Ordnung der Natur die Schwächeren den Stärkeren Platz machen müssen, zum Grundsatz der natürlichen Selektion erhoben. Diesen Grundsatz halten naive Menschen für eine wissenschaftliche Wahrheit.
Es gibt drei unlösbare Probleme im Glauben an die Wahrheit des Grundsatzes der natürlichen Selektion, die die Nichtigkeit dieses Grundsatzes in aller Deutlichkeit beweisen:
1) Die natürliche Selektion ist ein sinnbeladener Ausdruck, der bedeutet, dass die Natur ganz bewusst die Schwächeren durch die Stärkeren aus dem Leben drängt und an deren Stelle die Stärkeren setzt, während die Natur entsprechend jenem wissenschaftlichen Standpunkt, der als Grundlage für die natürliche Selektion betrachtet wurde, über keinerlei Bewusstsein verfügt, mit dem sie den Vorgang des Kampfes ums Überleben bewusst verwaltet.
2) Die Natur ist keine selbstständige Wahrheit, auch kein aktives, subjektives Wesen, welches mit seiner Macht, seinem Wissen und seinen Zielen alles, was sich auf der Ebene der natürlichen Erscheinungen präsentiert, auf der Grundlage der Selektion des Besten und des Stärksten verwaltet. Und gerade deshalb ist die Zuordnung eines sich ständig verbessernden Vorgangs zu der Natur wissenschaftlich inakzeptabel. Denn wie gesagt ist die Natur kein selbstständiges Wesen und keine aktive Person, welche in ihren eigenen Erscheinungen ein sich vervollkommnendes Ordnungssystem geschaffen hat und es auch zeigt. Unter Rücksichtnahme auf eben dieses Problem hat sich der berühmte Gelehrte Herr Uparin in seinem bekannten Buch in Widersprüche verwickelt. Er sagt in seinem Buch:
„Nur bei Annahme eines solchen [auf Vervollkommnung abzielenden] Entwickungsprozesses sind wir in der Lage, nicht nur zu verstehen, was sich im Körper der Lebewesen ereignet, und warum es sich ereignet, sondern wir können auf sieben Millionen Warum-Fragen antworten, die sich uns bei der objektiven Erforschung der Lebenssubstanz stellen.“[7]
Es versteht sich von selbst, dass diese Zahl auf sieben Millionen und Zwei ansteigt, wenn wir die folgenden zwei Fragen hinzufügen:
1) Wie hat die bewusstseinslose Natur eine auf Vervollkommnung ausgerichtete Ordnung geschaffen und wie verwaltet sie sie?
2) Warum hat der Vorgang der Evolution diesen bestimmten Weg eingeschlagen?
Abgesehen von diesen beiden Fragen lautet eine weitere Aussage Uparins, die seiner These bei der Schlussfolgerung aus der Evolution widerspricht:
„Leider sind unsere Erkenntnisse über diese Evolution zu gering, um ihre Richtung systematisch zu bestimmen und um die qualitativen Veränderungen im aktiven Stoffwechselsystem, die in bestimmten Stadien der Evolution des Lebens aufgetreten sind, genau untersuchen zu können.“
3) Jene, die den Vorgang der darwinschen Selektion des Besseren im Kampf ums Überleben sogar im Blick auf die Gattung Mensch verallgemeinert haben, haben die Wahrheit außer Acht gelassen, dass der Egoismus der Menschen im Laufe der Geschichte flexibel war und sich [zeitweise] der Pflege der Vervollkommnung des inneren Wesens zuwandte. Der Karawane der egozentrischen Egoisten, welche sich selbst als Zweck und die anderen als Mittel betrachten und deshalb ihre ganze Macht zur Erhaltung ihrer Interessen und Vernichtung der anderen einsetzen, stand und steht eine andere leuchtende Karawane von Menschen gegenüber. Sie haben zugunsten der Verteidigung des Rechts, der Gerechtigkeit und der vernünftigen Freiheit der Menschen auf alle Genüsse der Welt verzichtet. Manche von ihnen setzten im Kampf für die Gerechtigkeit auch ihr Leben ein.
Diese Art von Ignoranz der Wahrheit der Geschichte und des Wesens der Menschen hat die Humanwissenschaften in eine Sackgasse getrieben. Anstatt die zahlreichen Opfer und Verteidigungskämpfe für die Werte zum Gegenstand ihrer [wissenschaftlichen] Beobachtungen zu machen und die animalische Geschichte der Menschheit in Richtung der menschlichen Geschichte umzulenken, haben sie die animalische Geschichte zur Naturgeschichte gemacht.
[1] Das Referat von Ostad Jafari in der Sitzung „Dialog zwischen Islam und Christentum“ in Teheran am 26/2/1995 mit Teilnahme von iranischen und österreichischen Professoren.
[2] Mechanismen, die von unserer Seite auf das Zustandekommen der Erkenntnis einwirken, sind: 1) die Struktur unserer Sinne; 2) unsere Einstellung gegenüber einer Wirklichkeit, mit der wir in eine Erkenntnisbeziehung treten; 3) unsere Ziele; 4) unsere im Voraus akzeptierten Grundsätze; 5) die Auswirkungen unserer Emotionen.
[3] Weitere Übersetzungsvarianten für „arabisch”: insaf sind: „Gerechtigkeit ausüben”, „gerechtes Handeln”, „Richtigkeit”.
[4] Gemeint ist der berühmte persische Dichter und islamische Mystiker Maulānā Galāl ad-Din Rūmi.
[5] Der Wille und das Wissen deines Gottes wurde auf der Grundlage von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit vervollkommnet und nichts kann die göttlichen Bestimmungen und Taten ändern.
[6] „Er sprach: Den, der Tyrannei ausübt, werden wir bald bestrafen.“ Diese Art von Versen begegnet uns mehr als neunzigmal im Qur’an.
[7] Uparin: Das Leben, Natur, ihr Ursprung und ihre Entwicklung, Abschnitt 2, letzte Seite.