Anlässlich des vor kurzem veröffentlichten religiösen Rechtsurteils Großayatollah Imam Khameneis hinsichtlich des Studiums der Islamischen Theologie konnten wir ein Gespräch mit Hudschat-ul-Islam Dr. Torabi, dem Direktor der Islamischen Akademie Deutschland, und Ayatollah Seyyed Ali Milani führen, in dem er auf den Hintergrund und die Bedeutung dieses Rechtsurteils eingeht.
Dieser Tage wurde ein Rechtsurteil Großayatollah Imam Khameneis veröffentlicht, welches das Studium der Islamischen Theologie als kollektive Pflicht auferlegt. Könnten Sie uns ein wenig über den Hintergrund aufklären?
Hudschat-ul-Islam Dr. Torabi: Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Begnadenden. Der Frieden und Segen Gottes sei mit Aba Abdillah al-Hussein (a.). Allerdings handelt es sich hierbei um ein allgemeines Rechtsurteil und alle schiitischen Maraja vertreten diese Auffassung. Alle sind der Meinung, dass der Erwerb des Wissens im Dienste der Ahl-ul-Bayt (a.) eine kollektive Pflicht darstellt. Die Quellen hierfür sind in den historischen und philosophischen Glaubensüberzeugungen der Schiiten zu finden. Die Schiiten strebten im Laufe der Geschichte stets nach dem Wissen, genauso wie Vernunft und Ausgeglichenheit stets zu ihren Merkmalen gehörten. Besonders auch unter Berücksichtigung des zunehmenden Extremismus obliegt uns gemäß der schiitischen Tradition dieser Bildungsauftrag nach wie vor, da der Extremismus überall dort keimen kann, wo die Bildung keine besondere Entfaltung erfahren konnte. Der Hintergrund für dieses Rechtsurteil ist somit in erster Linie der Widerstand gegen den Extremismus in Form der Ausbildung von qualifizierten Fachkräften im Bereich der Islamischen Theologie, auf dass die durch den Extremismus in Verruf zu geraten drohenden Schönheiten der Religion auch weiterhin in ihrem rechten Lichte zu erstrahlen vermögen.
Bezieht sich dieses Rechtsurteil, welches von einer kollektiven Verpflichtung der deutschsprachigen muslimischen Gemeinschaft spricht, speziell auf den Studiengang der Islamischen Theologie an der Islamischen Akademie Deutschland?
Hudschat-ul-Islam Dr. Torabi: Allerdings bezieht sich das Rechtsurteil hinsichtlich der Frage desjenigen, der sie gestellt hat, auf die Hauzah der IAD in Hamburg. Vielleicht ist ein möglicher Grund hierfür die Stellung des Vertreters der Marja’iyyah an der Spitze dieser Institution sowie die herausragende Bedeutung, die Hamburg besonders für die schiitischen Muslime in ganz Europa hat. Allerdings gilt die kollektive Verpflichtung zum Studium der Islamischen Theologie für alle Zeiten und Orte, welches durch den heiligen Qur’an sowie zahlreiche Überlieferungen unzweifelhaft nachweisbar ist.
Könnten Sie bitte in diesem Zusammenhang erklären, was eine kollektive Verpflichtung aus religionsrechtlicher Sicht überhaupt bedeutet?
Hudschat-ul-Islam Dr. Torabi: Eine kollektive Verpflichtung ist eine religiöse Pflicht, die der muslimischen Gemeinschaft als Kollektiv obliegt. Wenn sie von einigen Personen, die die erforderlichen Bedingungen hierfür aufweisen, erfüllt wird und die Erfüllung der Aufgabe keine weiteren Personen mehr erfordert, liegt diese Verpflichtung nicht länger auf den Schultern der restlichen Gemeinschaft. Somit ist eine kollektive Verpflichtung, die in der arabischen Sprache als „Wadschib-ul-Kifai“ bezeichnet wird, eine religiöse Verpflichtung wie jede andere auch, allerdings mit dem Unterschied, dass sie für andere verfällt, wenn einige Personen ihr nachgehen und die Aufgabe erfüllen. Ihr steht die individuelle Verpflichtung, die auf Arabisch „Wadschib-ul-Eyni“ heißt, gegenüber, die jedem Einzelnen obliegt und von der man auch nicht entbunden wird, wenn sie andere Personen erfüllen, wie bspw. das tägliche Ritualgebet oder das Fasten im Monat Ramadan.
Könnten Sie uns bitte auch ein einfaches Beispiel für eine kollektive Verpflichtung oder „Wadschib-ul-Kifai“ nennen?
Hudschat-ul-Islam Dr. Torabi: Als Beispiel stelle man sich einen Waldbrand vor. Es obliegt nun der Gemeinschaft als Kollektiv, diese Angelegenheit zu lösen und den Brand zu löschen. Finden sich genug Personen ein, die sich dieser Aufgabe annehmen und den Brand löschen, wird die restliche Gemeinschaft von dieser Verpflichtung entbunden. An dieser Stelle sei jedoch erwähnt, dass diejenigen, die die Pflicht stellvertretend für die restliche Gemeinschaft erfüllen, die Zufriedenheit des barmherzigen Gottes in besonderer Art und Weise auf sich ziehen. Versäumt es die Gemeinschaft jedoch, genügend Personen bereitzustellen, die den Brand löschen, lastet auf den Schultern der gesamten Gemeinschaft die aus diesem Versäumnis resultierende Sünde.
Interessant. Sicherlich gibt es auch Voraussetzungen für diejenigen, die dieser kollektiven Verpflichtung zum Studium der Islamischen Theologie nachgehen möchten, richtig?
Hudschat-ul-Islam Dr. Torabi: Sicherlich. Diese Verpflichtung stellt besondere Anforderungen an die Studierenden. Sie müssen klug, vernünftig, ausgeglichen und integriert sein. Ethisch müssen sie dem Vorbild der Propheten, Imame und Rechtschaffenen folgen und von der Spiritualität beseelt sein. Weitere formale Voraussetzungen können auf der Internetpräsenz im entsprechenden Bereich in Erfahrung gebracht werden.
Wie viele Personen werden eigentlich noch benötigt, um diese religiöse Verpflichtung zu erfüllen?
Hudschat-ul-Islam Dr. Torabi: Um Ihnen die aktuelle Lage ein wenig besser veranschaulichen zu können, reicht es einige Fakten zu nennen: Aktuell haben wir ca. 220 schiitische Gemeindezentren und Moscheen in Deutschland. Hingegen ist die Anzahl der Gelehrten und Theologen so unzureichend, dass viele Gemeinden, selbst in einigen Großstädten, von dem Segen abgeschnitten sind, überhaupt einen ausgebildeten Imam zu haben. Wir benötigen deshalb auf kurzfristige Sicht dringend Dutzende Studenten, die einwandfrei die deutsche Sprache beherrschen und vollkommen mit der Gesellschaft und Kultur dieses Landes vertraut sind, sodass sie sich in Zukunft den Problemen und Angelegenheiten der hier lebenden Menschen annehmen können.
Vielen Dank für das erhellende Gespräch. Haben Sie noch einige abschließende Worte an uns zu richten?
Hudschat-ul-Islam Dr. Torabi: Das Leben als Student der Islamischen Theologie stellt die Fortführung des Lebensweges der Propheten dar. Ein Gelehrter ist ein Lehrer, der die Menschen an die Wahrheiten der Religion heranführt und sie darin belehrt. Er erinnert sie an die Propheten. Er ist jener, dessen Handlungen und Worte deckungsgleich zueinander sind. Er ist selber überzeugt von dem, was er spricht und handelt noch vor allen anderen danach. Neben solchen Personen zu leben, erfüllt die Herzen der Menschen mit Glück und Freude und führt zu ihrer Beruhigung. An der Hauzah zu studieren, hat zwei Aspekte: Zum einen ist es wie an der Universität, wo man Lehrveranstaltungen besucht, lernt, forscht, wissenschaftliche Abhandlungen verfasst und dergleichen. Zum anderen muss man sich gleichzeitig um die Veredelung seines Charakters bemühen und seinen Gottesdiensten Qualität verleihen. Man muss sogar an seiner Absicht arbeiten, sodass man nicht einmal mehr auf den Gedanken kommt, eine schlechte Handlung zu begehen. Auf Basis dessen bleibt zu sagen, dass das Leben als Student der Islamischen Theologie erfüllt ist von spirituellen und wissenschaftlichen Schönheiten. Die Trauermonate Muharram und Safar bilden eine gute Gelegenheit, um über diese Thematik ausführlicher nachzudenken. Im Voraus gratuliere ich bereits all jenen jungen Leuten, die sich noch für diesen Weg entscheiden werden. Zweifelsohne ist die Wahl dieses Weges das schönste Geschenk, welches man dem Imam der Zeit (aj.) machen kann. Der Frieden und Segen des barmherzigen Gottes sei mit euch allen.
Im Gespräch mit Ayatollah Seyyed Ali Milani
Wie ist die Meinung Ihrer Exzellenz hinsichtlich der in Hamburg gegründeten Hauzah?
Eine der Angelegenheiten, die ich in der gestrigen Sitzung angesprochen hatte, war, dass wenn wir überall einheimische Studenten der islamischen Theologie haben, die einheimisch sind und auf traditionelle Art und Weise ausgebildet werden, dies zu unserem Vorteil, d.h. zum Vorteil der Rechtsschule sein wird. Dies gilt auch für die europäischen Länder. Die Islamisch-Theologischen Hochschulen müssen in verschiedenen Provinzen und Ländern gegründet werden. Ich weiß nicht, ob diese Sache in anderen Orten in Deutschland begonnen wurde, aber in Hamburg wurde dies alhamdulillah realisiert und ich habe einige Studenten gesehen und mit einigen von ihnen gesprochen. Es ist sehr angemessen, dass neben dieser Moschee, die auf Geheiß Großayatollahs Boroujerdis gegründet und von Großayatollah Milani vollendet wurde, eine solche Gelegenheit entstehen konnte. Hier können Personen ausgebildet werden, die alle gemäß ihres Potentials Gelehrte werden können, die gottesfürchtig und wissend sind. Sie können in diesen Breitengraden für das Wissen der Ahl-ul-Bayt (a.) werben und es verbreiten. Und sollten in benachbarten Ländern noch keine Islamisch-Theologischen Hochschulen gegründet worden sein oder erst später gegründet werden, können wir dann aus Hamburg Gelehrte in angrenzende Staaten ausschicken, die Islamisch-Theologische Hochschulen gründen.
Diese Sache ist eine wertvolle und fundamentale Angelegenheit. Sie ist für die Zukunft von immenser Bedeutung und genießt selbstverständlich die Bestätigung aller Maraja und der Islamisch-Theologischen Hochschulen sowie der Islamisch-Theologischen Hochschule in Qum.
Allerdings ist offenbar, dass die Studenten aus moralischer, wissenschaftlicher und praktischer Sicht so ausgebildet werden müssen, dass sie in Zukunft wirklich als Wissende in der Scharia gelten und diese beschützen können. Sie müssen stark in den Glaubensfundamenten und aus moralischer Sicht Vorbilder für andere sein. Dies ist einer der Wünsche. Möge der erhabene Gott Sie erfolgreich werden lassen, sodass Sie diese Sache auf bestmögliche Art und Weise vervollständigen mögen und die Früchte dieser Arbeit insha Allah baldmöglichst sehen.
Welche Verantwortung haben in dieser Hinsicht die islamischen Zentren?
Ich habe es bereits gestern gesagt und empfohlen und empfehle nun auch den islamischen Zentren, die sich in den verschiedenen Regionen Deutschlands befinden, dass sie junge Leute ausfindig machen, die die Bereitschaft haben, diesen Weg einzuschlagen und aus religiöser und moralischer Sicht die Kompetenz zum Eintritt in die Islamisch-Theologische Hochschule aufweisen. Dies habe ich gestern empfohlen und unterstrichen und sage auch jetzt sowohl der Jugend selbst als auch den Verantwortlichen der islamischen Zentren, dass sie dieser Sache nachgehen und zusammenarbeiten sollen.
Einige junge Menschen oder ihre Familien im Speziellen zweifeln in dieser Angelegenheit. Sie möchten, dass ihre Kinder nicht-theologische Studienfächer studieren, wie bspw. Maschinenbau oder Medizin.
Dies gibt es auch in Iran. Auch in Iran begrüßen dies einige Familien nicht und glauben, dass bspw. ihr Kind materielle und immaterielle Probleme bekommen wird und dergleichen. Doch dem ist nicht so. Sollte jemand an der Hochschule Islamische-Theologie studieren, egal wo auf der Welt, gut lernen sowie Gottesfurcht und Wissen in sich vereinigen, wird dies zur Glückseligkeit im Diesseits und Jenseits führen. Es führt zur Würde für seine Familie sowohl im Diesseits als auch im Jenseits. Dies muss den Familien aufgezeigt werden. Allerdings ist es eine schwere Verantwortung und die Ausbildung solcher junger Menschen ist keine einfache Aufgabe. Mögen Sie mit Hilfe des Statthalters der Zeit (aj.) dieser Aufgabe nachgehen und gute Ergebnisse erhalten. Der Frieden Gottes sei mit Muhammad (s.) und seiner reinen Nachkommenschaft.