Muslime in Europa

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(Ein Vortrag aus Anlass der Veranstaltung: Die Rolle des Islams zur Einheit in Vielfalt, gehalten am 8. Mai 2015 im Islamischen Zentrum Hamburg von Belal El-Mogaddedi)

Nicht selten werden europäische Muslime mit Aussagen wie diesen konfrontiert: Was wollt ihr hier? Geht zurück dahin, woher ihr gekommen seid. Wenn ihr euch nicht anpassen könnt, dann haut doch ab! Als ein in Deutschland geborener deutscher Muslim hat sich mir die Frage nach dem, was die Muslime in Deutschland bzw. Europa wollen, nie gestellt. In leichter Abwandlung eines bekannten Slogans stelle ich für mich folgendes fest: „Ich bin Muslim, und das ist gut so!“ Dies ist mein Lebensmotto bis heute gewesen, auch wenn ich es nie so schön in Worte fassen konnte, wie es ein regierender Bürgermeister Berlins in Bezug auf seine eigene Person einst getan hat.

Nach diesem Motto werde ich in Zukunft weiterhin mein Leben gestalten, ganz unabhängig von den Wahrnehmungen, die andere vom Muslim-Sein und dem Islam in Deutschland haben. Dies ist nicht Ausdruck von Arroganz oder Selbstüberschätzung, diese Haltung ist Ausdruck einer selbstbewussten Selbstverständlichkeit, die ich mit Millionen von Muslimen, mit euch hier in Deutschland und unseren Geschwistern im Islam europaweit teile.

Weder darf ich aus dem zufälligen Geburtsort eine Besonderheit für meine Person ableiten noch steht es anderen zu, auf der Basis dieses Zufalls und meines Muslim-Seins eine Erklärung oder eine Rechtfertigung für diesen geografischen Zufall zu erwarten. „Ich bin Muslim und das ist gut so“ ist nicht nur de facto und de jure richtig, dieser Gedanke ist gleichzeitig Ausdruck einer Selbstverständlichkeit, die Religion nicht geografisch regionalisiert oder verortet. Muslime leben in Deutschland. Punkt. Eine Bringschuld seitens der in diesem Land lebenden Muslime, dies zu erklären oder gar zu rechtfertigen, gibt es nicht.

Doch mit dieser Haltung scheinen wir Muslime in diesem Land heutzutage anzuecken und Widerspruch hervorzurufen. Anders ist die immense mediale und politische Aufgeregtheit, die nicht nur Deutschland ergreift, wenn es um Islam und Muslime geht, kaum zu verstehen. Wollte der Preußenkönig Friedrich den Muslimen vor 225 Jahren noch Moscheen bauen, so blendete sein Namensvetter, der ehemalige deutsche Innenminister Friedrich, diesen Aspekt deutscher Geschichte aus und sah wechselweise mal in den Muslimen, mal im Islam einen Fremdkörper. Dieser Konservativismus ist nicht rückschrittlich, denn dann könnte man hoffen, dass er irgendwann bei Friedrich dem Großen ankommen würde. Dieser Konservativismus ist ausgrenzend und anti-pluralistisch angelegt und vertritt – völlig illusorisch in der heutigen Welt und im heutigen Deutschland – eine weltabgewandte und farblose kulturelle Eintönigkeit, die nicht bereit ist, Islam und Muslime ohne Vorbehalt als gleichberechtigten Bestandteil und Baustein eines gemeinsamen Europas zu akzeptieren. Darüber hinaus ist er auch gegenüber der Würde des Menschen ablehnend ausgerichtet, da eben dieser gesellschaftliche Pluralismus nicht nur praktischer Ausdruck eines gelebten Respekts von Menschenwürde ist, sondern auch die notwendige Folge menschlicher Freiheit und souveräner Entscheidungsfreiheit.

Vor einigen Jahren nahm ich zusammen mit meinem Vater an einem Diskussionsabend zum Thema religiöser Vielfalt in Deutschland teil. Die Gespräche auf dem Podium wie auch den Austausch mit dem Plenum im Rahmen der freien Diskussion empfand ich als erfrischend und spät am Abend verabschiedete ich mich in guter Laune von den Gastgebern. Auf dem Nachhauseweg war mein Vater merkwürdig still. Auf meine Nachfrage, wie ihm denn der Diskussionsverlauf gefallen habe, antwortete er: „Ich lebe seit mehr als 50 Jahren in Deutschland, habe hier studiert und meinen Beruf ausgeübt, meine Familie gegründet, die gute Nachbarschaft gepflegt. Ich habe immer geduldig und authentisch Fragen zum Islam und zum muslimischen Leben beantwortet und muss nun nach fünf Jahrzehnten wieder und wieder feststellen – auch heute Abend – dass die Menschen uns und unserer Religion gegenüber noch immer dieselben Vorurteile hegen wie vor 50 Jahren. Die offensichtliche Lernunfähigkeit der großen Mehrheit der Menschen in diesem Land im Hinblick auf Islam und Muslime ist manchmal zum Verzweifeln.“

Dieses niederschmetternde Resümee eines Mannes, der zwei Drittel seines Lebens in Deutschland verbracht hat und seine Bestimmung in diesem Land nicht nur in einer akademischen Laufbahn und im Broterwerb, sondern auch in der produktiven Interaktion mit seinen Mitmenschen sah und sieht, stimmte mich nicht nur sehr nachdenklich, sie beeindruckte mich nachhaltig. Das Fazit meines Vaters, eines aus meiner Sicht ausgewiesenen Experten in Sachen souveräner, individuell gelebter Integration, ist ernüchternd, und sie ist alarmierend zugleich, denn die Geschichte lehrt, dass Unwissen, Wissensmangel oder verfälschtes Wissen schreckliche Fehlentscheidungen und Entwicklungen nach sich ziehen können.

Die Ideologie der Angst

Dieser beklagenswerte Status Quo, der nicht nur von rechtsextremen und faschistoiden Kräften gefördert und verfestigt wird, scheint kein spezifisch deutsches, sondern ein europaweites Phänomen zu sein. Mein Freund Professor Tariq Ramadan, der an der Universität von Oxford den Stuhl für Zeitgenössische Islamische Studien innehat – und der vor zwei Monaten hier im IZH aus Anlass des 60-jährigen Jubiläums der Gründung der Deutschen Muslim Liga einen beeindruckenden Vortrag hielt – hat in einem Artikel mit dem Titel: „Changing the Present and Dreaming the Future“ vor einigen Jahren „die Ideologie der Angst“ als eine der bestimmenden Kräfte unseres Zeitalters identifiziert. Zur Überwindung dieses beklagenswerten Zustandes müsse heute von Menschen unterschiedlichen Bekenntnisses – dies ist auch eine Aufforderung an uns Muslime – gemeinsam „der Traum von der Zukunft“ entwickelt werden.

Zurzeit herrsche aber noch diese “Ideologie der Angst“ – eine dominierende Kraft in den Überlegungen nationaler wie auch internationaler Politikstrategen besonders im Hinblick auf den Umgang mit Muslimen und Islam. Angesichts dieser Erkenntnis von Prof. Ramadan muss man sich nicht nur als Muslim um den innergesellschaftlichen Frieden sorgen, auch jenseits der Grenzen Deutschlands. In diesem Kontext beschäftige ich mich immer wieder mit dieser Frage: Warum reicht eigentlich nicht eine Gesellschaftskultur der Vielfalt, die im Grundgesetz bzw. der Verfassungstreue nicht nur einen einigenden und gemeinsamen Nenner für seine Bürger sieht, und diese in ihrer Verschiedenheit nicht nur respektiert, sondern auch akzeptiert?

Muss die Vorstellung von einer besseren Zukunft, die ein friedliches Nebeneinander und Miteinander von Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen und kultureller Prägung in einem Alptraum der eintönigen, überbewerteten und einer von Überlegenheitsgefühl getragenen „Leid“-Kultur von Uniformität enden? Eine monotone Kultur, die von Muslimen die Unter- und Einordnung in eine von tatsächlichen wie auch vermeintlichen Volksvertretern nie genau definierte Leitkultur verlangt. Eine willenlose Einordnung in eine konsumorientierte, religionsferne Bürgergesellschaft, irgendwo angesiedelt zwischen Stammtisch, Kaffeekränzen, Feierabendbier und Bratwurst, in der ein Muslim über kurz oder lang nicht mehr als Muslim erkennbar ist.

Dies kann jedoch für Muslime, die ihre religiöse Überzeugung ernst nehmen, kein erstrebenswerter Zustand sein. Ist es nicht erstaunlich, dass einerseits fast jede Form von Individualität, die sich in trivialen Äußerlichkeiten wie zum Beispiel Frisuren, wechselnden Kleidungsmoden, Piercings oder Tätowierungen vermittelt, massiv medial hervorgehoben und als Ausdruck von – vermeintlich – fortschrittlicher und aufgeklärter Mündigkeit gesellschaftliche Bejahung erfährt? Und ist es andererseits nicht erschreckend, dass sich der große Teil der Mehrheitsgesellschaft – interessanterweise – plötzlich bedroht und herausgefordert fühlt, wenn eine Person dieses Recht auf Individualität in Anspruch nimmt und ihr im öffentlichen Raum eine islamische Note verleiht?

Der Gebrauch der „Ideologie der Angst“ beeinflusst und bremst das interreligiöse Gespräch, und darüber hinaus behindert diese Angst die persönliche, alltägliche zwischenmenschliche Begegnung, die mehr in den Köpfen der Menschen bewegen kann als jede Konferenz, Gipfelgespräch oder schön anzusehende Versammlung vor dem Brandenburger Tor. Sie verengt den Raum, in dem sich ein konstruktiver Dialog zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen entwickelt und auf Augenhöhe praktiziert werden kann. Die „Ideologie der Angst“ ist von Natur aus schleierhaft und unklar, doch gerade diese Schemenhaftigkeit macht sie zu einem starken und vielfältigen Multifunktionswerkzeug politischer Strategien, sozusagen zu einer Allzweckwaffe der Politik. Sie ist ein mächtiges Instrument, nicht nur in den Händen der Politiker, aber in der Regel auch in den Händen derer, die zu ihren Gunsten nach einer allgemeinen Veränderung bestehender lokaler, regionaler wie auch internationaler Ordnungen streben.

Die große Popularität der kruden Behauptungen eines zündelnden, affektierten, ehemaligen Bundesbankers und Hobbygenetikers über Muslime und aktuell eines Berliner Ortsbürgermeisters ist nur ein Beleg dafür, wie schwer es ist, dieser Ideologie Einhalt zu gebieten. Die Probleme, die im Bereich des interreligiösen Kontaktes und im multireligiösen wie auch multikulturellen Zusammenleben zum Tragen kommen, sind offensichtliche gesellschaftliche Krankheitssymptome, die durch eine „Ideologie der Angst“ provoziert bzw. produziert werden.

Aus einer Gemengelage von Unwissen und boshafter Fehlinformation gepaart mit einer gehörigen Portion boshafter Propaganda und unsachlichen Angriffen bezieht die „Ideologie der Angst“ ihre geradezu berauschende Energie. Sie ist der Nährboden, auf dem das eingeschworene Kartell der Hassprediger, also die Giordanos, Matusseks, Broders, Sarrazins, Schwarzers, Keleks, die die vermeintliche Kapitulation des Abendlandes herbeireden, wächst und gedeiht.

Doch Muslime dürfen dies nicht zum Anlass nehmen und sich aus dem öffentlichen Diskurs zurückziehen. Sie sollten sich vielmehr den Herausforderungen mit Geschick und Behutsamkeit stellen. Die heftige, verleumderische und entstellende Polemik, die sich heute über den Islam und Muslime ergießt, ist nicht das Ergebnis der Ereignisse des Jahres 2001. Dieser Polemik haftet eine eigene, lange und dunkle Geschichte an, die nicht mit dem 11. September 2001 beginnt, sondern durch ihn lediglich verstärkt worden ist.

Eines jedoch sollte Muslimen allerdings auch bewusst sein: Die Logik hinter der Schmähung von Islam und Muslimen ist nicht selten ein Versuch, die öffentliche Aufmerksamkeit von der gewaltigen, inneren Dynamik, die in den Lehren des Islams ruht, abzulenken. Diese unsere Religion hat jenseits von Zeit und Raum bewiesen, dass sie über Antworten verfügt, die eine bedeutende zivilisatorische Alternative darstellen und somit eine gewaltige Herausforderungskraft für etablierte Normen, Denkschulen und Systeme darstellt. Muslime sollten es daher auch etwas sportlich sehen: Viel Feind, viel Ehr!

Eine Muslimische Bestandsaufnahme

Doch wir Muslime müssen auch selbstkritisch sein! Heute neigen Muslime dazu, der Politik der Angst mit einem reflexartigen Re-Aktionismus zu begegnen. Wir schlittern von einer Reaktionsblase in die nächste, um der „Ideologie der Angst“ zu widersprechen, wobei uns die gestalterische Kraft der eigenen Initiative zunehmend entgleitet. Jeder Muslim muss sich die Frage stellen, ob tatsächlich alle öffentlich oder privat agitierenden Maulhelden und Possenreißer die Anerkennung, Aufmerksamkeit und Beachtung, die sie durch unseren Widerspruch erfahren, wirklich verdienen?

Wir Muslime sollten uns nicht darauf einlassen, jeden der uns vor die Füße geworfenen Fehdehandschuh aufzunehmen, auch wenn dies mit unverhohlenen Hetztiraden oder subtilen gegen den Islam gerichteten Untertönen geschieht. Der agent provocateur genießt die ihm durch Aufmerksamkeit geschenkte Kurpackung, die ihm Muslime mit ihrer Neigung zum Re-Aktionismus gewähren. Selbst ein qualifizierendes Moratorium von Muslimen hinsichtlich der im Großen und Ganzen fruchtlosen so genannten Dialogarbeit sollte in der gegenwärtigen Situation ebenfalls als praktische Option zur Überwindung einer in Sachen Islam weit verbreiteten und von Hochmut getragenen Debattenkultur, die sich auch in Form von geschwätzigen Talkshows präsentiert, ins Auge gefasst werden.

Muslime werden so zu Akteuren und sind nicht mehr Getriebene der selbst ernannten nicht-muslimischen „Experten“ und so genannten Islamkritiker, die von zwei Dingen überhaupt nichts verstehen: Nämlich vom Islam und wie man Kritik betreibt. Wir Muslime sollten keinesfalls an einer Diskussionskultur teilhaben, die ausschließlich aus formalistischen Gründen geführt wird, vor allem, wenn eben diese dazu missbraucht wird, um Vorurteile gegenüber Islam und Muslimen zu schüren und zu vertiefen.

Ein flüchtiger Blick auf die aktuelle Qualität des interreligiösen Dialogs auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, vor allem zwischen Muslimen und Christen, lässt aufmerksame und interessierte Beobachter zu dem Schluss kommen, dass dieser vielerorts nur dazu dienen soll, der verschreckten Öffentlichkeit ein Islambild zu vermitteln, dass den Islam als für die Moderne ungeeignet betrachtet. Und angeblich unfähig auf die Komplexität der heutigen Welt zu reagieren. Fortwährend ist die arrogante Rede von der Notwendigkeit einer „islamischen Aufklärung“, als ob die Mechanismen der Konfrontation von Aufklärung und offenbarungsgläubigem Christentum auf den Islam überhaupt angewendet werden könnten.

Ein selbst auferlegtes Moratorium wie auch die differenzierte Praxis des interreligiösen Dialoges wird dem echten, produktiven Dialog vitalen Auftrieb verleihen, diesen in die Mitte der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit tragen, um langfristig den scheinheiligen Diskurs, der der breiten Öffentlichkeit gegenwärtig als interreligiöser Dialog und Versuch der Annäherung präsentiert wird, zu demaskieren.

Dennoch müssen Muslime eingestehen, dass die Notwendigkeit einer – keinesfalls in der durch das Christentum vorgegebenen Bedeutung – Aufklärung nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist, sie jedoch nur als „Aufklärung der Muslime“ verstanden werden kann. Denn nicht der Islam trägt Verantwortung an der derzeitigen Misere der muslimischen Welt, sondern es sind neben einer Vielzahl von externen Faktoren auch Muslime, die ihren Anteil zu dieser Misere beitragen. Eine selbstkritische Nabelschau in dieser Situation wird zeigen, dass der Allgemeinzustand des gegenwärtigen muslimischen Geistes durchaus überholungsbedürftig ist. Negative Bewertungen des Islams in Gesellschaften mit nicht-muslimischen Mehrheiten ausschließlich dem erfolgreichen Wirken der professionellen nicht-muslimischen Hassprediger zuzuschreiben, wäre nämlich arg zu kurz gegriffen.

Der Islam lehrt den Muslim, sich in seinem gesellschaftlichen Umfeld vorbildhaft zu verhalten. Dies gilt vor allem in Gesellschaften, in denen sich Muslime in der Minderheit befinden, weil das Geschwätz der selbsternannten und auf Bestsellerlisten schielenden Islam-Experten als Täuschungsmanöver bzw. Taqqiya erkannt werden kann. Muslime im Allgemeinen und insbesondere Muslime, die in europäischen Gesellschaften beheimatet sind, müssen aus ihrem bisweilen tiefen Schlummer aufwachen, sich von ihrem gelegentlichen Selbstmitleid verabschieden, und damit aufhören, einer glorreichen Vergangenheit nachzutrauern.

Die Erinnerung an eine eindrucksvolle Vergangenheit kann uns vielmehr helfen, Energien zu entwickeln, um die bittere Wirklichkeit von heute zu verändern. Das Zeitalter islamischer Blüte war das Ergebnis von harter Arbeit und leidenschaftlicher wie auch tugendhafter, gottgefälliger Bemühung. Das Wissen um eine prächtige Geschichte, die zum festen Bestandteil des kollektiven muslimischen Gedächtnisses geworden ist, kann eine Grundlage bilden für die erfolgreiche und konstruktive Gestaltung unserer Zukunft in einem multikulturellen, multireligiösen Europa. Sich alleine ihrer zu erinnern und in ihr zu schwelgen, wird die muslimischen Gemeinschaften Europas nicht aus ihrer Rückständigkeit befreien.

Der Islam ist selbstverständlich integraler Teil der geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas. Diese wäre in der Geschwindigkeit und ihrer modernen Beschaffenheit ohne den direkten, jahrhundertelangen und bis heute präsenten Einfluss des Islam auf Europa nicht möglich gewesen. Solange Deutschland sich also als zentraler Bestandteil Europas versteht, entlarvt die Behauptung, dass der Islam nicht zu Deutschland gehören darf, nicht nur ein höchst fragwürdiges und reduziertes Verständnis von Menschheitsgeschichte und zivilisatorischer Entwicklung, sie demonstriert auch ein drittklassiges Verständnis von Europa.

Gerade Europa bildet und bietet aufgrund seiner geografischen, ethnischen, religiösen und kulturellen Vielfalt die beste Voraussetzung im Umgang mit Vielgestaltigkeit und Multikulturalität. Den Islam als Teil Europas abzulehnen bedeutet, die Idee von Europa abzulehnen.

Muslime in der Verantwortung

Muslime sind aufgefordert, die Gegenwart mitzugestalten. Die muslimische Gemeinschaft entwickelte sich auf der Basis des Islams zu einer der stärksten reformatorischen Kräfte in der menschlichen Geschichte. An ihrem Anfang standen die Worte „Iqra“ und „Qalam“ – beides Namen der ersten, hinabgesandten Suren des Quran -, eine unmissverständliche, klare Aufforderung zur Wissenserweiterung. Doch unsere Wissensgemeinschaft hat sich von diesem Auftrag weit entfernt. Die Zahl der Haushalte in muslimischen Mehrheitsgesellschaften, die über einen „Mushaf“ hinaus über weitere Bücher verfügen oder gar eine kleine Bibliothek, ist enttäuschend gering. Der Mangel oder das Fehlen von authentischem islamologischem Wissen ist für die muslimische Welt und die deutschen Muslime das größte Handicap.

Muslimische Rückständigkeit und Schwäche hat viel mit der Ignoranz in Sachen Religion zu tun. Im Gegensatz zu den grundlegenden Lehren des Islam neigen Muslime im Allgemeinen nicht selten dazu, ihre Religion auf eine mechanische Praxis der Rituale zu reduzieren. Dies macht es schwierig, Verständnis für den Islam zu entwickeln und Nicht-Muslimen die unbegründete Angst vor dem Islam zu nehmen. Muslime scheinen zu vergessen, dass jede Tätigkeit in ihrem Leben aus der umfassenden zivilisatorischen Kraft der islamischen Lehre Nutzen ziehen kann.

Muslimische Potenziale

Die berechtigte muslimische Forderung, in nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaften objektiv und vorurteilsfrei beurteilt zu werden, und nicht aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit verurteilt bzw. auf ein gesellschaftliches Abstellgleis geschoben zu werden, kann nur schwer in Abrede gestellt werden, wenn Muslime Vertrauen durch Klarheit im Handeln erlangen – Muslimen wie auch Nicht-Muslimen gegenüber.

Dies ist mitnichten ein Aufruf zum Opportunismus oder zur Unterwürfigkeit, sondern ein Aufruf zur zuverlässigen Partnerschaft im Sinne der Lehren des Islam, eine Aufforderung zur analytischen Loyalität, ein Appell, den inneren Maßstäben der Gerechtigkeit zu dienen, eine Befürwortung der Praxis uneingeschränkter Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit.

Der muslimische Citoyen

Das Islamische Konzept der „Ummah“ kann einem Muslim das Verständnis für die Konzeption des Citoyen in der Moderne vermitteln, eines lokal wie auch global denkenden und agierenden Individuums, der sich darum bemüht, seiner Verantwortung im Leben lokal wie auch global gerecht zu werden. Ein muslimischer „global citizen“, der sich zum Beispiel gleichermaßen für Umweltschutz und gegen jede Form von Rassismus vor seiner Haustür wie auch für die Einhaltung der Menschenrechte im Mittleren Osten einsetzt, weil beides im Einklang mit seiner Religion steht. Mit dieser Haltung und diesem speziellen Verständnis von Ummah, werden Muslime in Europa mittel- wie auch langfristig mehr Anerkennung für ihre gerechten Anliegen erlangen können.

Beherrschung einer oder mehrerer europäischer Landessprachen sollte für Muslime selbstverständlich sein, wie auch die Mehrheitsgesellschaft der Mehrsprachigkeit endlich mehr Respekt zollen und nicht als Zeichen für Abgrenzung herabwürdigen sollte. Muslime stehen heute vor der großen Herausforderung, diesen vielversprechenden Geist des Islam in ihrer Geschichte wieder zu entdecken und neu zu beleben.

Die Wiederentdeckung des Islams als eine kreative und stabilisierende, den Charakter formende Kraft wird Muslime aus der Lethargie, in die sie sich schon seit so vielen Jahren verirrt haben, führen. Sie müssen begreifen, dass der Islam als Bezugspunkt im Leben die zentrale Quelle für ihren inneren Maßstab sein kann.

Europa bietet Muslimen, die bereit sind, die Herausforderungen in der Ummah anzunehmen, den intellektuellen Freiraum, um nicht nur aktiv an einer Neuausrichtung muslimischen Denkens mitzuwirken, sondern diese einzuleiten. Dabei können wir Muslime in Europa um das ideologische und schwammige Schlagwort „Integration“ getrost einen großen Bogen schlagen. Dieser Begriff kann ignoriert werden, weil er von seinen Befürwortern nicht selten diskriminierend verwendet wird, um einer genauso wenig definierten Leitkultur Vorschub zu leisten.

Gerade nach Oslo wie auch der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) müssen sich die Verfechter von Leitkulturalität fragen lassen, ob es nicht langsam an der Zeit ist, die fortwährende Diffamierung des Begriffes Multikulturalität zu beenden. Der Massenmord von Oslo, die Mordserie des NSU und das Erstarken rechtsradikaler Parteien und Bewegungen müssen europaweit als Fanal für den uniformierenden Leitkulturalismus angesehen werden; sie sind das Resultat einer sich in Europa seit Jahren Bahn brechenden ideologisch geprägten Verhetzung von Islam und Muslimen.

Muslime müssen nicht integriert werden, sie sind bereits ein unbestreitbarer Teil der europäischen Gegenwart und der Geschichte Europas, eine Tatsache, die viele Nicht-Muslime in ihr beschränktes Verständnis von Europa nicht integrieren können und wollen. Muslime sind nicht zu Gast in diesen Gesellschaften, sie sind integraler Teil dieser, ihrer europäischer Heimatgesellschaften. Jenseits des materiellen Beitrags, den Muslime in ihren europäischen Heimatgesellschaften leisten, fordert der Islam Muslime dazu auf, ihre Umgebung mitzugestalten, weiterzuentwickeln und ihr Angebote zu machen. Auch hier muss ein Umdenken stattfinden.

Die langjährige, zähe und weiterhin ergebnisoffene Auseinandersetzung zwischen Muslimen und staatlichen Institutionen hinsichtlich der rechtlichen Verortung des Islam im Gefüge des Gemeinwesens, sollte Muslimen in Europa Anlass sein, sich zum Beispiel an die großartigen Tradition des „Waqf“, des Islamischen Stiftungswesens, zu erinnern. Nur auf diese Weise kann die Unabhängigkeit der Islamologie gewahrt werden, eine Grundvoraussetzung, um in der muslimischen Lehre und der Lebenspraxis Tradition und Moderne jenseits jeglicher politischer Einflussnahmen wieder miteinander in Einklang zu bringen.

Muslimen in Europa wird eine Atmosphäre von Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens geboten, um die sie Muslime in Ländern mit muslimischen Mehrheiten beneiden. Muslime in Europa sollten diese optimalen Bedingungen nutzen, jedoch nicht im Interesse eines obskuren, konturlosen und entmündigten „Euro-Islam“, dem im besten Fall eine untergeordnete Rolle zugestanden wird, eines Islams, der nicht mehr als solcher identifizierbar ist.

Muslime in Europa sollten erkennen, dass sie Verantwortung für die Gesellschaft tragen, in der sie leben. Sie müssen sich im Interesse einer neuen Nachdenklichkeit dem Wettbewerb der Ideen stellen, um den „Islam als Alternative“ im Herzen von Europa zu entwickeln und zu positionieren, zum Nutzen Europas und zum Wohle der göttlichen Schöpfung im allgemeinen und nicht zuletzt im Dienst ihrer Träume von einer besseren Zukunft. Denn auch für uns Muslime gilt: Entweder die Zukunft verändert uns, oder aber wir verändern die Zukunft.

Jenseits politischer Grabenkämpfe, von denen Muslime sich nicht allzu sehr irritieren lassen sollten, können sie das auch in Deutschland sehr gut tun. Muslime sind freie Bürger dieses Landes, die sich ihrer Pflichten und ihrer Rechte bewusst sind, Pflichten, denen sie nachkommen müssen, und Rechte, die sie selbstverständlich in Anspruch nehmen dürfen.

Muslime bereichern Europa und machen diesen Kontinent lebenswerter. Muslime sind Teil der Zivilgesellschaft, sie gestalten und verändern diese Gesellschaft. Manchmal fordern sie diese auch heraus. Und natürlich müssen sie die Gegenwart konstruktiv und positiv herausfordern, denn nur so können wir Muslime die Zukunft mit aufbauen und mitgestalten, und exakt das ist auch gut so.