Der Begriff ›Kultur‹ hat eine ausschließlich anthropologische Verankerung. Kultur stiftet Identität und gilt als Orientierung. Während wir Menschen als kultiviert oder unkultiviert, als gut oder schlecht kultiviert bezeichnet werden können, können wir diese Kategorien nicht auf das Tierreich anwenden. Kultur umfasst grob umrissen alle Bereiche der Wissenschaft, Religion, Kunst, Ethik sowie Gesetzgebung und Technik. Sie verleiht jedem Wachstum, sei es wirtschaftlich, politisch oder menschlich, eine solide Grundlage.
Weil Kultur und Religion in vielerlei Hinsicht in einem Wirkungszusammenhang stehen, ist es möglich, eine Gesellschaft durch die Lehren des Glaubens, sinnvoll verbunden mit der Vernunft, in Richtung einer wissenschaftlichen, spirituellen und moralischen Reife hin zu erziehen. Religion in diesem Sinne steht im Dienste der Veredelung des menschlichen Geistes und ist aus sich heraus gut. Es ist immer der Mensch, der sie in seinem Sinne instrumentalisiert. Insofern ist der hier verwendete Religionsbegriff kein bloßer Sammelbegriff für ethische Grundsätze, sondern vielmehr Orientierungsinstanz für das gesamte Leben des Menschen.
Kultur umfasst auch die soziale Eingebundenheit des Individuums in die Sozialstruktur seiner Gesellschaft. Alle hervorgebrachten Kulturgüter werden, bewusst oder unbewusst, durch Erziehung und Bildung an spätere Generationen weitergegeben. Diese Transformation erfolgt insbesondere durch Sprache, Nachahmung und Symbole. Verschiedene Völker besitzen, jeweils im Rahmen ihrer eigenen Tradition, unterschiedliche kulturelle Eigenheiten, die sie von Generation zu Generation weiterreichen.
Viele Theorien befassen sich mit dem Phänomen der Kultur. Gemeinsam ist ihnen die Frage nach Rolle, Sinn und Funktion der Kultur, auch nach Inkulturation, qualitativer und quantitativer Kulturforschung, Kulturinvasion und dem damit verbundenen Wandel von Bedeutungen. Nicht alle Kulturvorstellungen aber fördern eine Entfaltung des einzelnen Menschen im Rahmen seiner Gesellschaft. Bloße Kulturdefinitionen sind insofern defizitär, weshalb ihnen diejenigen gesellschaftlich ausgerichteten Kulturtheorien vorzuziehen sind, die von Kulturwissenschaftlern aus Fächern wie Ethnologie oder Soziologie erarbeitet werden.
Weil kulturelle Phänomene auf sozialer Ebene stets im Wandel begriffen sind, entstehen im Laufe der Zeit Veränderungen, die der gesamten Gesellschaft schaden können. Sie sind zwar nicht immer direkt sichtbar, können sich aber zu erheblichen Störungsfaktoren entwickeln. Um solcherlei Störungen vorzubeugen, ist es notwendig, die bestehende Verfassung der Kultur immer wieder neu zu durchdenken. Normen und Relationen, innere und äußere Faktoren sowie treibende Kräfte und entstehende Barrieren sind stets erneut zu analysieren. Basierend auf dieser Notwendigkeit werde ich im vorliegenden Beitrag ansatzweise eine Theorie der Kultur auf der Grundlage des islamischen Denkens formulieren, welche die Gesellschaft voranzubringen vermag.
Berührungspunkte zwischen Kultur und Religion
Ich kehre zurück zu meiner Prämisse, dass der Religion bei der Gestaltung der Kultur einer Gesellschaft besondere Bedeutung zufällt. Insofern ist die wichtigste Fragestellung in einer islamischen Gesellschaft die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen Kultur und Religion. Der Islam vermag eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Kultur zu übernehmen und verschiedene Dimensionen der menschlichen Gesellschaft wie Familie, Bildung, zivile Institutionen, Kulturarbeit, sogar Geschichte und Art und Weise der Unterweisung in diesen Bereichen neu zu fundieren. Die praktischen Prinzipien des Islam als einer Weltreligion, die sich nicht auf eine bestimmte Gesellschaft oder kulturelle Tradition beschränkt, sind sogar eine geeignete Grundlage, um eine gerechte Kultur für die gesamte menschliche Gesellschaft zu verwirklichen.
Von Beginn an war der Islam eine machtvolle Religion, die in der Lage war, auch kulturelle Werte zu transferieren. Ihm gelang es, der Unwissenheit, Zügellosigkeit und den sozialen Herausforderungen angemessen zu begegnen. Es war der Islam, der die Menschen zu Wissenschaft, Vernunft und Spiritualität führte, er lehrte, die Großartigkeit der Schöpfung zu achten und im Bewusstsein der Menschen eine geistige Wende herbeizuführen.
Gegenwärtig ist es umso wichtiger, die Wechselwirkung von Kultur und Religion ernst zu nehmen und diese zur Geltung zu bringen, weil sich viele orientalische Länder in Richtung des westlichen Konsums bewegen und dadurch humanistische, liberalistische und feministische Werte in ihr Weltbild integrieren. Wegen dieser Ausrichtung an westlichen Klischees besteht die Gefahr, den vorhandenen Reichtum der islamischen Kultur aus den Augen zu verlieren. Mit einer Rückbesinnung auf die islamische Lehre können wir auf die moderne Unwissenheit Einfluss nehmen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Gesellschaft kein oberflächliches Wissen vom Wesen des Islam erhält, sondern ihn immer wieder neu reflektiert.
Eine solche Umwälzung ist erreichbar, wenn der islamischen Kultur der Weg bereitet und das nötige Geleit gegeben wird. Eine Kultur, die auf allen Ebenen der menschlichen Gesellschaft auf Würde und Freiheit fußt und das Joch der Ausbeutung ablehnt, kann der Menschheit helfen, individuelle und kollektive Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen und ein ganzheitliches Bewusstsein auszubilden. Auf dieser Grundlage ist es machbar, verborgene Kräfte in Wissenschaft, Spiritualität, Ethik und Wissenschaft freizulegen und angemessen zu nutzen. Ein ganzheitliches Bewusstsein ist Voraussetzung für eine Kultur des Nehmens und Gebens, den Verzicht auf das Profane, die Abkehr von Reichtum und die Versöhnung von Tradition und Moderne. Ferner ermöglicht sie, das religiöse Bewusstsein des Gemeinwesens dadurch zu schärfen, dass sie die vernunftgeleitete Wahrnehmung der Religion fördert.
Es geht darum, die Gesellschaft aus ihrem eigenen Reichtum heraus zu leiten, sie vor dem flüchtigen Rausch des Konsumismus zu bewahren und in Richtung eines Genusses zu lenken, der in der Vernunft verwurzelt ist. Der Islam, der an eine Weltkultur und die Möglichkeit einer Weltethik glaubt, möchte dieses Ziel verwirklichen.
Eckpunkte einer Theorie der Kultur
Im Rahmen dieses Beitrags kann freilich keine umfassende und grundlegende Theorie für die Verwirklichung einer islamischen Kultur formuliert werden. Nur ansatzweise können hier einige Eckpunkte einer solchen Kulturtheorie ausgeführt werden:
- Die Formulierung eines neuen, islamisch verankerten Kulturmodells erfordert die Reformation unserer Geisteswissenschaften im Sinne religiöser Vorstellungen, die dazu geeignet sind, dem menschlichen Leben Würde zu verleihen und seine Stellung in der Gesellschaft zu bewahren. Allein durch die Überwindung dieser Hürde werden die erforderlichen Grundlagen für weitere Maßnahmen geschaffen. Eine Regierung islamischer Prägung vermag durch kulturbildende Maßnahmen die Würde des Menschen auf allen Ebenen der Gesellschaft zu garantieren. Es ist evident, dass sie kein Willkürdenken gutheißt, an dem menschliche Identität individueller und kollektiver Art Schaden nehmen könnte.
- Voraussetzung für das Erreichen der formulierten Ziele sind Durchsetzungskraft und ein einheitlicher Wille aller Beteiligten. Ohne einen solchen ernsthaften Willen ist die Institutionalisierung dieser Kultur auf gesellschaftlicher Ebene nicht möglich. Zur Verwirklichung einer solchen Modellstruktur, in der die Ideale einer islamischen Kultur in ihrer Reinform realisiert werden können, ist die Beteiligung und Kooperation des Volkes bzw. der Umma notwendig. Das Fehlen einer solchen kollektiven Beteiligung breiter Schichten der Gesellschaft im stetigen Einvernehmen mit den Verantwortlichen lässt befürchten, dass Projekte zum Scheitern verurteilt sind. In besonderem Maße vermag der islamische Iran aufgrund des Reichtums seiner historisch verankerten Zivilordnung als Modell einer fundierten Struktur islamischer Kultur zu fungieren.
- Es ist notwendig, ein vertieftes Verständnis von Religion zu entwickeln und dabei jede Verflachung zu vermeiden. Oberflächliches Wissen über den Islam bringt die Gesellschaft nicht nur vom rechten Weg ab, sondern treibt geradezu einen Keil zwischen Kultur und Religion sowie soziale Pflicht und innere Erfahrung. Solche Spaltungen schaffen mit der ihr innewohnenden zügellosen Denkart große Herausforderungen. Sie können im Extremfall sogar Uneinigkeit zwischen gesellschaftlichen Führungspersönlichkeiten schaffen und letztlich zu kulturellen und strukturellen Erschütterungen der Gesellschaft führen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Beschäftigung mit der Kultur kontinuierlich zu betreiben. Sie ist immer aufs Neue zu durchdenken und es ist darüber zu reflektieren, ob es sinnstiftend ist, die Ideale unserer Gesellschaft durch eine offene oder gar eine geschlossene Kulturtheorie zu verwirklichen.
Von Bedeutung ist auch, dass es Unterschiede zwischen den Methoden der individuellen und der sozialen Erziehung gibt, da eine Vernachlässigung dieser Unterschiede zu irreparablen Schäden führen könnte. Es ist einsichtig, dass die Ausbildung einer einzelnen Person anderer Methoden bedarf als die einer Gruppe oder Gemeinschaft. Insofern können wir auf dem Bildungssektor nicht mit einem einzigen Muster operieren, das für alle gelten soll.
Unser innerer Anspruch soll Religion als ein umgreifendes Programm verstehen, welches im eingangs erläuterten Sinne alles einschließt, was Kultur umfasst und uns ermöglicht, gemeinsame Sitten und Bräuche der Gesellschaft zu verändern. Dabei wird die religiöse Kultur als eine solide und segensreiche Kultur verstanden, die alle Voraussetzungen erfüllt, um globalisiert zu werden. In ihrem Zusammenspiel vermögen Religion und Kultur es, alle Nationen zu einer einheitlichen Gemeinschaft zusammenzuschweißen und die Gesellschaften in Richtung einer Weltkultur zu lenken, die eine Notwendigkeit der heutigen und künftigen Weltgesellschaft geworden ist.
- Der Entwurf einer umfassenden Theorie der Kultur erfordert die Beachtung von Grundlagen, Quellen, Zielen sowie Methoden. Diese Komponenten sind in Bezug auf islamische und nicht-islamische Systeme unterschiedlich. Freilich sind gewisse Tugenden beiden Systemen gemeinsam, jedoch bestehen große Unterschiede bezüglich der Ziele. Werden bspw. Loyalität und Wahrhaftigkeit als Tugenden institutionalisiert, so ist in einer nicht-religiösen Gesellschaft in der Regel das Profitdenken die Instanz der Orientierung, da dort fast ausschließlich profane Dinge des Lebens Berücksichtigung finden. In einem islamischen System hingegen gelten diese Tugenden als persönlichkeitsbildend und als moralische Orientierung der Menschen, die wiederum der Gesellschaft zugutekommen. Ziel ist, dass sich der Mensch gemäß religiöser Lehren selbst erzieht, denn seiner Natur nach kann er nicht auf diese verzichten.
Werden Schein und Trug in einer Gesellschaft zur Normalität, so wird der Mensch in Kauf nehmen müssen, dass die Gesellschaft und damit seine Lebensgrundlage verkommt. Die islamische Kultur erlaubt grundsätzlich nicht, dass der Mensch sich auf ein unwürdiges Leben einlässt, und um dies zu verhindern, steht sie in der Pflicht, Grundlagen für ein würdiges Leben zu schaffen. Hierin vermag der Mensch nicht nur sein profanes Leben einzurichten, sondern auch Spiritualität und ein tugendhaftes Leben zu entfalten.
Der Wirkungszusammenhang der genannten Grundlagen, Quellen, Ziele und Methoden, die beim Projekt einer umfassenden Kulturtheorie für eine islamische Gesellschaft eine Rolle spielen, muss stets im Auge behalten werden. Die einmütige Zusammenarbeit aller kulturellen Institutionen ist bei der Planung dieses Kulturentwurfes notwendig; Zwistigkeiten führen zu Blockaden, die wiederum in der Gesellschaft negativen Widerhall finden. Keine Kulturtheorie kann ohne die Berücksichtigung dieser Tatsachen zum erwünschten Erfolg führen.
- Funktionierende kulturelle Institutionen bedürfen der nötigen Kompetenz in Planung und Durchführung kultureller Projekte auf individuellen, sozialen, künstlerischen und wirtschaftlichen Ebenen. Diese Kompetenz muss sich auch auf profundes Wissen über alle gesellschaftlichen Gruppen – Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer –, bzw. generell auf das Sozialverhalten in Familienverbänden und in der Gesellschaft als solche erstrecken. Es käme einem gesellschaftlichen Kulturverrat gleich, die ausführenden Institutionen nicht mit den entsprechenden kompetenten Mitarbeitern auszustatten.
- Die Politisierung der Kulturbereiche ist nicht zielführend. Deshalb darf die Auswahl von Arbeitskräften in allen Bereichen, sowohl auf Führungsebene, im mittleren Management wie auch auf Mitarbeiterebene nicht unter parteigebundenen Gesichtspunkten getroffen werden. Auch sonstige unsachliche Auswahlkriterien hätten negative Folgen für die zu leistende Arbeit und letzten Endes für die Gesellschaft. Wer eine Rolle im Kulturwesen einnimmt, darf nicht parteilich auftreten oder die Ideen seiner Partei dem kulturellen System aufzwingen wollen.
Besonders empfindliche Bereiche sind Institutionen wie Ministerien des Inneren, für Kultur/islamische Kultur, Wissenschaften, Forschung, Gesundheit, Bildung und die Verantwortlichen in allen akademischen Bereichen, seien sie in staatlicher oder freier Trägerschaft, und nationale Organisationen der Jugend und der Medien.
- Entscheidungen sind einvernehmlich zu treffen, da in Eigenregie getroffene Entscheidungen zu irreparablen Schäden führen können. Eine solche ›Kultur des Wachstums‹ muss insbesondere zwischen Führungspersonen institutionalisiert werden. Alle Akteure müssen einen vernünftigen und transparenten Umgang miteinander pflegen, der einhergeht mit realistischer, verantwortlicher und wohlwollender Kritik. Deshalb ist auch eine ›Kultur der Kritik‹ in Bereichen der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft konstitutiv für das Wachstum einer islamischen Gesellschaft.
Nur eine Zusammenarbeit, die frei ist von Streit, Missachtung und Verletzung von Umgangsregeln der Kritik, kann dem Wachstum einer islamischen Gesellschaft förderlich sein. Sie schafft die Grundlage für eine vernunftgeleitete, Maß haltende und spirituelle Gesellschaft, in der Herzlichkeit, Kooperation und Hilfsbereitschaft eine Kultur geworden sind. Weiterhin ist in einer islamischen Gesellschaft die Ausrichtung des Bewusstseins auf das Motiv des Göttlichen wichtig, welches uns die Relativität unseres Lebens und unserer Entscheidungen deutlich macht. Folgende Maxime aus dem Koran weist hierauf hin: »Sprich: ›Mein Gebet und mein Opfer und mein Leben und mein Tod gehören Allah, dem Herrn der Welten‹.«[1] Richten wir unser Handeln an diesem Spruch aus, so werden wir die Belange unseres individuellen und sozialen Lebens sinnvoll vertreten und wohldurchdachte, bleibende Taten verrichten.
Diese Kulturmaxime ist den Menschen einer islamischen Gesellschaft besonders ans Herz zu legen. Die gegenteilige Auffassung, die Beschäftigung mit Gott zeige altertümliches Denken und niemand interessiere sich mehr hierfür, wird der kulturellen Gesellschaft Schaden bringen. Mehr denn je sind moralische Tugenden in allen Bereichen der Gesellschaft, allen voran dem individuellen, dem politischen, dem kulturellen und sozialen sowie wirtschaftlichen zu beachten.
Jeder Mensch soll bei sich selbst beginnen, moralisch und tugendhaft zu handeln, um damit die Grundlagen für ein vernünftiges zwischenmenschliches Zusammenleben und ein wissenschaftliches und spirituelles Wachstum in der Gesellschaft zu schaffen. Moralische Lehren institutionalisieren Nächstenliebe und Tugenden wie Liebe und Freundschaft in der Gesellschaft. Dies führt zu Liebe und Freundschaft zwischen den Menschen.
Durch eine gerechtigkeitsorientierte Begegnung – eine weitere Forderung des Islam –, kann jede Nation und Regierung ihre ureigene Pflicht wahrnehmen. Profitgier fördert gewiss keine Nächstenliebe. Wenn ein Händler seine Ware nicht überteuert verkauft und diese auch nicht hortet, nähert er sich gerechtem Handeln an. Liebe als ein moralisches Prinzip lässt viele Unannehmlichkeiten und Verbitterungen schwinden und befähigt die Menschen dazu, aus einem Gefühl der inneren Ruhe heraus das Leben gemeinsam zu gestalten.
- Die Kenntnis von Bedürfnissen, Prioritäten und Notwendigkeiten der Gesellschaft sowie die genaue Überwachung aller neuralgischen Punkte sind für den Entwurf einer gelungenen Kulturtheorie über kurz oder lang eine Notwendigkeit. Nur aufgrund eines solchen Wissens können Strukturen und Grenzen nationaler, allgemeiner und religiöser Kultur bestimmt werden und die Religion bei der Kulturbildung in einer Gesellschaft den ihr gebührenden Platz erhalten. Auch die konkrete Planung erhält dadurch eine Basis und bleibt nicht allein einem theoretischen Rahmen verhaftet.
Theorien, die auf sorgfältig konzipierten pragmatischen Gesichtspunkten beruhen, sind weit Erfolg versprechender als theorieverhaftete Planungen oder gar Projekte, die sich auf eine bloße Ausführung bereits vorhandener Regelungen beschränken. Auf der Grundlage eines umfassenden Blicks können wir eine ebenso umfassende Theorie der Kultur formulieren, um den Menschen in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht wie auch in Bildung und Kunst zu fördern. Ein weiteres Ziel, das damit erreicht werden kann, ist, Kritik und Kritikfähigkeit zu fördern und den Geist der Religion, der ein konstitutiver Bestandteil islamischer Gesellschaften ist, in allen Bereichen zu erneuern.
- Bei der Realisierung der auf diese Weise getroffenen Entscheidungen in der Praxis haben Kulturtheoretiker und die Verantwortlichen sorgfältig alle getroffenen Überlegungen zu berücksichtigen. Freilich können Unwägbarkeiten die Umsetzung von Projekten verzögern oder gar verhindern. Um Störungen zu minimieren, ist projektbegleitend jeder Teilabschnitt nach seiner Fertigstellung zu evaluieren und die getroffenen Entscheidungen immer wieder auf ihre Umsetzbarkeit und Ziele hin zu überprüfen. Sicher sind solche Situationsanalysen insbesondere im kulturellen Sektor in mancherlei Hinsicht mit Schwierigkeiten verbunden, doch sie sind notwendig, damit die islamische Gesellschaft als ganze keinen Schaden erleidet.
Wenn bspw. eine ›Kultur der angemessenen Verhüllung weiblicher Reize‹ (hedjab) zur Förderung der ›Sittsamkeit‹ (efaf) gepflegt werden soll, sind zahlreiche kulturelle Faktoren zu berücksichtigen und immer wieder neu zu überprüfen. Ob eine offene oder konservative Sichtweise in diesem Fall bessere Resonanz erzielt, ist durch eine stetige deskriptive Evaluierung und entsprechende Feldforschung festzustellen. Neben qualitativen und quantitativen Faktoren sollte die Praxis auch immer wieder daraufhin überprüft werden, ob die Kooperation zwischen den einzelnen beteiligten Instanzen – hierzu gehören auch die Medien – reibungslos funktioniert.
Insbesondere die Medien sind umfassend über den Fortgang von Maßnahmen zu unterrichten, um ein Verhalten auszuschließen, das Projekte regelrecht ausbremst oder sie gar scheitern lässt. Kooperation ist auch permanent zwischen den einzelnen staatlichen Gewalten gefordert, um sich des Einvernehmens zwischen der Legislative, Judikative und Exekutive zu versichern. Nach Möglichkeit ist zu verhindern, dass einander widersprechende Fraktionen entstehen, deren Konflikte sich auf die Gesellschaft übertragen oder die Verweigerung der Mitarbeit bei einem Unternehmen hervorrufen könnten. Träte ein solcher Fall ein, so wäre die Gefahr nicht auszuschließen, dass die Verantwortlichen Farbe und Richtung wechseln, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Gefahren könnten auch dadurch entstehen, dass die Verantwortlichen die ursprünglich mitgetragene Meinung aufgeben, sie als unprofessionell zurückweisen und der Öffentlichkeit versprechen, ihren Fehler wieder gutmachen zu wollen. Diese kleine Problematisierung mag genügen, um zu verdeutlichen, inwiefern Antagonismen und Kollisionen große Missverständnisse erzeugen und früher oder später kulturelle Projekte scheitern lassen können. Zahlreiche Fälle aus der Praxis belegen diese Gefahr. Insofern sind mit den pragmatisch Verantwortlichen gemeinsame Eckpunkte auszuarbeiten, um die theoretische Planung wie auch praktische Umsetzung des Projektes zu fundieren. Auf diese Weise können wir das kulturelle Selbstbewusstsein fördern und gleichsam Identitätslosigkeit und vor allem Identitätsverwirrung entgegenwirken.
- Unter Beachtung aller Aspekte ist eine Antwort auf die Frage zu formulieren, auf welche Weise eine Kultur zu einer Vorbildposition unter den Kulturen der Weltgesellschaft gelangen kann. Zu studieren sind die Voraussetzungen, die hierauf Einfluss nehmen können. Ferner stellt sich die Frage, auf welche Art und Weise die Kultur einer Gesellschaft sukzessive verändert werden kann oder sogar muss, um sie gegen eine importierte Kultur zu immunisieren.
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu analysieren, wie es dem Westen gelungen ist, seine radikal-liberale Kultur in Bereiche der Ethik, Wirtschaft und Politik des Orients zu importieren und welche Strategien zu einem Wandel in den dortigen Gesellschaften geführt haben. Zu untersuchen sind Attraktion durch die neue Kultur, Kulturinvasion und Wandlungen der Form und Struktur im Kultursystem der Gesellschaft.
Alle diese Problembereiche weisen erneut auf die herausgehobene Position der Kulturtheoretiker hin, die ihr Augenmerk auf derlei unerwünschte Phänomene und soziale Gefährdungen richten müssen. Kulturinvasoren verfolgen unbeirrt das Ziel, Kulturen anderer Gesellschaften unter ihren Einfluss zu bringen, um sie zu ihren Zwecken zu funktionalisieren. Damit die kulturelle Entwicklung keinen Schaden nimmt, sind kulturelle Alternativmodelle, insbesondere in Anlehnung an den Reichtum islamischer Kultur anzubieten.
Alle Bereiche der Gesellschaft sind hier zu überprüfen, nicht nur individuelle, soziale und künstlerische Bereiche wie die Film- und Buchkultur, sondern auch politische und wirtschaftliche Sektoren. Eine solche Strukturalisierung verleiht der Kultur Dynamik, lässt die Gesellschaft wie ein Uhrwerk funktionieren und trägt dazu bei, ein Vorbild für die heutige Welt und insbesondere andere islamische Gesellschaften zu sein.
- Unter der Beachtung der Tatsache, dass jegliche kulturelle Entwicklung einen Prozess darstellt, sollten Kulturtheoretiker ihre Planungen transparent und bedürfnisgerecht nach Notwendigkeiten und Prioritäten gestalten, ohne mögliche Gefährdungen außer Acht zu lassen. Eine solche Sichtweise ermöglicht wie zur Zeit der Anfänge des Islam, einen Kulturwandel, der auf religiösen Prinzipien fußt.
Wer hätte seinerzeit geglaubt, dass die seit langem verwurzelte Unwissenheit durch die Entstehung des Islam und die Lehren des Propheten tatsächlich einen Wandel erfahren würden? Das Ergebnis dieser geglückten grundlegenden Umwälzung war die Verbreitung von Zusammengehörigkeitsgefühl, Selbstlosigkeit und wechselseitiger Achtung. Eindrucksvoll offenbart sich dies beim Studium der praktischen Lebensführung derer, die den Propheten bei seiner Flucht wohlwollend aufnahmen. Noch heute sind Tapferkeit, Selbstlosigkeit und Standhaftigkeit jener Helfer sprichwörtlich.
Die Verantwortlichen in der Kulturarbeit sollten sich an der Standhaftigkeit dieser frühen Reformer ein Beispiel nehmen und, abgesehen von ihrer Qualifikation, beständige Geduld aufbringen, um den geplanten Erfolg zu erzielen und den Weg für die ästhetische und religiöse Erziehung des Menschen zu ebnen. Rückschläge sind auf diesem mit Schwierigkeiten gepflasterten Weg gang und gäbe und dürfen die Verantwortlichen nicht abschrecken, da dies zur Stagnation aller Bildungsbereiche führen würde.
- Für die Umsetzung kultureller Projekte ist die effektive Verteilung der Aufgaben unter den Verantwortlichen und die Kontrolle aller Bereiche von zentraler Bedeutung, um Schäden vorzubeugen. Die Aufmerksamkeit ausschließlich auf bestimmte Punkte zu lenken, kann zu Schäden in anderen Bereichen führen, die das gesamte Projekt gefährden. Besondere Beachtung verdienen Nahtstellen zu anderen Projekten.
Für die Umsetzung von Kulturprojekten hat sich die ›Treppenmethode‹ bewährt, bei der alle Komponenten wie bei einem durchdachten Studiengang sinnvoll aufeinander aufbauen. Ohne die Einhaltung einer sinnvollen Reihenfolge und die Beachtung von Wechselwirkungen besteht die Gefahr, dass Fortschritte verlangsamt oder sogar vorhandene Ziele wieder zunichte gemacht werden.
Ziel meines Beitrages war, Eckpunkte einer umfassenden Theorie der Kultur auf der Grundlage des islamischen Denkens zu formulieren. Ein solches Unterfangen setzt zweifelsohne einen dynamischen Kulturbegriff voraus und erfordert eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen Kulturkoordinatoren und ausführenden Institutionen. Die Anwendung einer solchen Methode bildet eine fundierte Grundlage dafür, Kulturprojekte in die Gesellschaft hineinzutragen und in ihr zu institutionalisieren.
[1] Al-An`am | 6:163.